Razzia bei mutmasslichen IS-AnhängernJunge Winterthurer und eine graue Eminenz wegen Terrorverdachts verhaftet
In einer abgestimmten Aktion in Winterthur, St. Gallen und Luzern sowie in Deutschland nimmt die Polizei vier Personen fest. Einer davon ist der Winterthurer Konvertit Silvio Z.

Die Untersuchung der Bundesanwaltschaft startete im Dezember 2021. Am Montagabend nun klickten die Handschellen. In einer konzertierten Aktion von deutschen und Schweizer Behörden wurden vier Personen verhaftet und sieben Hausdurchsuchungen durchgeführt. Die drei in der Schweiz Verhafteten seien untereinander in Kontakt gestanden. Zudem hatten sie offenbar Kontakt mit der grauen Eminenz der IS-Zelle, einem ebenfalls am Montagabend im Bundesland Rheinland-Pfalz verhafteten Mann. Das teilt die Bundesanwaltschaft mit. Beim 60-Jährigen handelt es sich um einen Deutschen pakistanischer Herkunft.
Die Bundesanwaltschaft führt nun ein Strafverfahren gegen die zwei erwachsene Beschuldigten im Alter von 20 und 26 Jahren. Das Strafverfahren gegen den dritten in der Schweiz Verhafteten führt die Jugendanwaltschaft Winterthur – es handelt sich um einen 17-Jährigen. Den beiden Erwachsenen wird vorgeworfen, gegen das Verbot der Gruppierungen al-Qaida und Islamischer Staat verstossen zu haben. Sodann verdächtigt sie die Bundesanwaltschaft, den IS unterstützt und sich daran beteiligt zu haben.
Recherchen dieser Zeitung zeigen nun: Bei einem der drei in der Schweiz Verhafteten handelt es sich um den 20-jährigen Silvio Z. (Name geändert). Er ist vor mehreren Jahren zum Islam übergetreten und wohnt in einer Übergangswohnung, die der Stadt Winterthur gehört. Dort leben Menschen, die sonst obdachlos wären.
Besuch von bärtigen Männern
Am Tag danach ist nichts mehr zu sehen vom Polizeieinsatz am frühen Montagabend. Doch ein Nachbar von Silvio Z. öffnet die Tür und erzählt. «Als ich nach Hause kam, war überall Polizei», sagt er. Das ganze Stockwerk sei abgeriegelt gewesen. Er habe sich in der Wohnung einschliessen müssen und habe nicht einmal für eine Rauchpause auf den Balkon gedurft.
Die Wohnung von Silvio Z. ist versiegelt. Was ihm genau vorgeworfen wird, will die Bundesanwaltschaft nicht sagen. Der Nachbar erzählt von einem jungen Mann, der offensichtlich zu «diesen Islamheinis» gehöre. Silvio Z. habe immer wieder Besuch von bärtigen Männern aus dem Kanton St. Gallen bekommen. Auch dort liefen im Zusammenhang mit den Festnahmen Polizeieinsätze, das ist der Mitteilung der Bundesanwaltschaft zu entnehmen. Der Nachbar erzählt, dass es nicht der erste Polizeieinsatz in der Wohnung von Silvio Z. war. Vor gut eineinhalb Jahren habe die Polizei die Tür mit einem Rammbock aufgebrochen, sagt der Nachbar. Der Vorfall vom November 2020 deckt sich zeitlich mit dem Attentat von Wien, das der Islamische Staat für sich reklamierte.
Der 26-jährige Verhaftete dürfte den Behörden ebenfalls bekannt sein. Er sass im Zusammenhang mit dem Anschlag in Wien mehrere Monate in Untersuchungshaft. Damals erschoss ein IS-Terrorist vier Personen und verwundete zwei Dutzend Menschen.
Ein paar Monate zuvor hatte der 26-jährige Simon F. (Name geändert) aus Winterthur den Attentäter von Wien zusammen mit einem zweiten Winterthurer IS-Sympathisanten besucht. Beweise für eine Mittäterschaft der beiden gab es nicht, und die Bundesanwaltschaft musste die Strafverfahren einstellen.
Simon F. konvertierte wie Silvio Z. vor längerer Zeit zum Islam und reiste 2018 mit seiner Ehefrau nach Kairo, um Arabisch zu lernen und den Koran zu studieren. Später wohnten die beiden am Stadtrand von Istanbul, das zeigten Recherchen dieser Zeitung. Bei ihm handelt es sich mutmasslich um den zweiten Verhafteten. Mehrere Hinweise decken sich diesbezüglich mit Aussagen eines Insiders.
Nun also folgt ein neues Strafverfahren. Klar erscheint aufgrund der Mitteilung der Bundesanwaltschaft, dass die Verhafteten im Fokus der Nachrichtendienste standen, noch bevor die Bundesanwaltschaft ihre Untersuchung im Dezember eröffnete.
Die Bundesanwaltschaft sagt dazu nur, die beteiligten Behörden hätten in einem «Joint Investigation Team» auf nationaler und auf internationaler Ebene eng zusammengearbeitet. Das Verfahren habe nun zum Ziel, die Vorwürfe gegen die Beschuldigten, deren Rollen sowie deren Absichten zu klären.
Die graue Eminenz
Bei der vierten, in Deutschland verhafteten Person handelt es sich um Aleem N. Dieser reiste 2020 in die Türkei. Von dort aus wollte der 60-Jährige gemäss deutschem Generalbundesanwalt zum IS nach Syrien weiter. Der Versuch endete aber in der Türkei. Ende Oktober 2020 sei Aleem N. zurückgekommen. In Deutschland engagierte er sich weiterhin für den IS. «Er übte eine umfangreiche Propagandatätigkeit für die Vereinigung aus», schreibt der Generalbundesanwalt. Aleem N. übersetzte Texte, Videos und Audiobotschaften aus dem Arabischen ins Deutsche und verbreitete diese in den sozialen Medien. Im Januar 2022 versuchte Aleem N. erneut zum IS zu reisen. Auch dieser Versuch scheiterte.

«Zerschlagen, aber nicht besiegt»
Den deutschen Terrorexperten und Buchautor Rolf Tophoven überraschen die Aktivitäten des IS nicht. «Der Islamische Staat ist zerschlagen, aber nicht besiegt», sagt er auf Anfrage. Die Organisation bleibe gefährlich. Rekrutiert werde nach wie vor, vor allem in Afrika und Asien. Zellen bestünden in Syrien und dem Irak weiter. Ausbildungslager für Terroristen gebe es dort nicht mehr. Versucht werde nun aber, potenziellen Anhängern klarzumachen, dass Anschläge über eine Ausbildung via Internet möglich und effektiv seien. Täglich gebe es dazu Dutzende von Aufrufen.
Tophoven sagt: «Der IS ist wegen des Ukraine-Kriegs medial in den Hintergrund gerückt. Er ist deswegen aber nicht verschwunden oder ungefährlich geworden.»
In dieses Bild passt, dass in Österreich eine IS-Zelle im Behördenfokus steht, die mit Plänen für Anschläge auf Grossveranstaltungen in Europa in Verbindung gebracht wird. Dies meldete die österreichische Nachrichtenagentur APA. Die Schweizer Bundesanwaltschaft sagt dazu, dass zwischen der Aktion in der Schweiz und jener in Österreich «kein unmittelbarer Zusammenhang bestand».
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