Junge und Migranten im Fadenkreuz
Angriff der SVP-Hardliner auf die Sozialhilfe: Die Höhe der Zahlungen soll von der Anzahl Steuerjahre abhängig gemacht werden.

Im alten Riegelhaus am Waldrand in Flaach geschieht gerade viel. Ulrich Schlüer wohnt und arbeitet dort, er macht die nationalkonservative «Schweizerzeit», und seit einigen Monaten leitet er eine Arbeitsgruppe, welche die Sozialhilfe reformieren will. Der Gruppe gehören zwei Dutzend SVP-Politiker an, vor allem aus dem Kanton Zürich, aber auch aus anderen Kantonen. Etwa der Berner Fürsorgedirektor Pierre Alain Schnegg oder der Baselbieter Landrat Peter Riebli. Aus dem Kanton Zürich sind es unter anderem Nationalrätin Barbara Steinemann, Kantonsrat Claudio Schmid sowie die Hagenbucher Gemeindepräsidentin Therese Schläpfer.
Das Ziel der Gruppe ist es, die Leistungen der Sozialhilfe zu senken und den Gemeinden mehr Spielraum zu geben beim Auszahlen der Leistungen. Eine Anfrage dieser Zeitung bei Beteiligten der Arbeitsgruppe zeigt, dass vor allem eine Stossrichtung im Zentrum steht: Die Sozialhilfe soll sich nach den bisher geleisteten Steuern und AHV-Abgaben richten. Das heisst: Junge und Migranten würden schlechter fahren. Ältere Arbeitslose, die schon länger in der Schweiz leben und arbeiten, würden mehr bekommen.
Senkung um 30 Prozent
Vorbild ist Baselland, wo das Parlament im Frühling 2018 eine Motion von Landrat Riebli überwiesen hat. Riebli, der auch Gemeindepräsident von Buckten ist, will den Grundbedarf in der Sozialhilfe – der Teil, der für Ausgaben wie Essen, Kleider und Hygiene gedacht ist – um 30 Prozent senken. Heute beträgt er für eine erwachsene Person 986 Franken. Weiter verlangt Riebli in einem ebenfalls gutgeheissenen Postulat, dass die Regierung prüfen soll, ob man die Sozialhilfe von der Anzahl Steuerjahre abhängig machen kann. Sollte der Gesetzesvorschlag der Regierung nicht genügen oder das Parlament die Ansicht ändern, erwägt Riebli eine kantonale Volksinitiative.
Er hofft, dass andere Kantone nachziehen, dass eine «Wellenbewegung» entsteht. Peter Riebli fühlt sich bestätigt von einer Studie, welche die Universität Luzern im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft erstellt und im Februar 2018 publiziert hat. Darin kritisieren die Autoren Fehlanreize und Schwelleneffekte in der Sozialhilfe und empfehlen eine Abstufung der Leistungen nach «Bezügertyp und Alter».
Nähe kann ein Vorteil sein
Wenn Ulrich Schlüer von seinen Reformplänen erzählt, holt er aus. In den Neunzigerjahren, da war er Gemeindepräsident, wurde in Flaach eine Frau, sie lebt heute noch, von der Amtsvormundschaft des Bezirks Andelfingen in die psychiatrische Klinik Rheinau eingewiesen. Dort habe sie sich fremd und einsam gefühlt. Das habe er gemerkt, erzählt Schlüer, als er die Frau zu Weihnachten besucht habe, um ihr im Namen der Gemeinde ein Geschenk zu überreichen. Wie er das bei allen Sozialfällen jedes Jahr machte. Er organisierte ihr dann einen Platz im Altersheim in Flaach. Sie sei zu jung fürs Altersheim gewesen, habe sich dort aber wohl gefühlt. Und er beauftragte einen Beistand aus dem Dorf. Die Frau sei glücklich gewesen. In seiner Zeit habe sich Flaach um die Sozialfälle selber gekümmert, sagt Schlüer. «Wir haben diese Fälle der Amtsvormundschaft weggenommen.»

Die Gemeinden sollten wieder Verantwortung übernehmen und Handlungsspielraum bekommen, sagt der 74-Jährige. «Sonst gehen die Leute irgendwann nur noch wegen des Apéros an die Gemeindeversammlung.»
Das sei der eine Punkt: Mehr Handlungsfreiheit für die Gemeinden. Und der zweite ergibt sich daraus: tiefere Sozialhilfeleistungen. Dass heute ein 20-Jähriger, der nicht mehr bei den Eltern wohnt, gleich viel bekommt wie ein 55-Jähriger, der jahrelang gearbeitet und Steuern bezahlt hat, gehe nicht, sagt Schlüer. Das Baselbieter Modell sei gut, der Kanton sei bezüglich Sozialhilfereform am weitesten. «Dort muss die Regierung jetzt handeln.» Auch in anderen Kantonen sollen Vorstösse eingereicht und notfalls Volksinitiativen lanciert werden, sagt Ulrich Schlüer. In den kommenden Monaten, diesen Sommer oder Herbst, werde die Arbeitsgruppe Sozialhilfe eine Strategie festlegen.
Es geht auch darum, das grosse Wahljahr vorzubereiten. Im Herbst 2019 stehen die eidgenössischen Wahlen an. Und in Zürich finden im nächsten Frühling die kantonalen Wahlen statt. Das Thema Sozialhilfe soll dann eine Rolle spielen. Schlüer ist für den Wahlkampf der SVP Bezirk Andelfingen zuständig.
Tabellen, Zahlen, Paragrafen
Therese Schläpfer, Gemeindepräsidentin von Hagenbuch, hat vor einigen Jahren eine mediale Kampagne initiiert. Es ging um eine kinderreiche Familie in ihrer Gemeinde, deren Betreuung teuer war. Heute sagt Schläpfer: «Man sagt uns von der SVP manchmal nach, dass wir nur maulen und nicht handeln. Aber jetzt sind wir wirklich daran, Lösungen zu erarbeiten.» Die Abstufung der Sozialhilfe nach Alter und bisheriger Leistung sei richtig, sagt sie.
Baselland ist am weitesten. Auch in anderen Kantonen sollen Vorstösse eingereicht werden.
Nationalrätin Barbara Steinemann schlägt den Laptop auf und zeigt Tabellen, Zahlen, Paragrafen. Rechnet vor, dass sich in ihrer Heimatgemeinde Regensdorf die Sozialhilfeausgaben innerhalb von zehn Jahren verdoppelt haben. Von rund 9 Millionen Franken 2005 auf etwa 18 Millionen Franken 2015. Steinemann, die in Regensdorf Mitglied der Sozialbehörde ist, zeigt, dass eine sechsköpfige Familie über 6000 Franken pro Monat erhält und was an situationsbedingten Leistungen dazukommt. Ist die Sozialhilfe immer überrissen? «Nein», sagt Steinemann. «Es gibt ganz unterschiedliche Fälle. Die Behörde müsste einfach mehr Spielraum haben.»
Claudio Schmid war in seiner Wohngemeinde Bülach ebenfalls in der Sozialbehörde, bevor er in den Zürcher Kantonsrat gewählt wurde. Die Sozialhilfe werde den Rat wieder beschäftigen, glaubt Schmid. Letztes Mal hatte der Rat die Forderung, der Kanton solle sich von der schweizerischen Sozialhilfekonferenz abwenden, abgelehnt, nachdem diese ihre Richtlinien angepasst hatte. Doch die Anpassung per Anfang 2016 genüge nicht, sagt Schmid. Man müsse nun «etwas wagen», neue Wege gehen.

Schmid glaubt nicht, dass der Grundbedarf zu hoch ist. Doch das Alter der Sozialhilfeempfänger müsse massgebend sein: «Unter 25-Jährige sollten keine Sozialhilfe mehr bekommen. Wenn sie gesund sind, können sie arbeiten. Über 55-Jährige hingegen, die unverschuldet arbeitslos geworden sind, dürfen von den Behörden nicht mehr schikaniert werden. Sie sollen bis zu ihrer Pensionierung die volle Sozialhilfe bekommen», sagt Claudio Schmid.
Der Dank des Parteipräsidenten
Schlüers Arbeitsgruppe hat sich vor bald zwei Jahren formiert. Damals hatten die Richtlinien der Sozialhilfekonferenz für Diskussionen gesorgt, kurz darauf wurden sie angepasst. Ein Mandat der schweizerischen SVP hat die Arbeitsgruppe nicht, aber den Segen des Parteipräsidenten. Albert Rösti hat an der letzten Sitzung im April teilgenommen und sich bei den Beteiligten bedankt.
Die Entwicklung der Sozialhilfeausgaben mache ihm Sorgen, sagt Rösti. Er begrüsse es sehr, wenn die Arbeitsgruppe demnächst eine Strategie festlegt und mit der Umsetzung beginnt. Im eidgenössischen Wahlkampf 2019 werde das Thema weniger virulent sein, da die Kantone hier zuständig sind. Die Reformbemühungen müssten auf Kantonsebene stattfinden. «Hingegen muss die Asylsozialhilfe dringend eingedämmt werden», sagt Rösti. «Das kann nur auf Bundesebene gelöst werden.»
Die Sozialhilfe steht auch auf der Traktandenliste, wenn sich die Delegierten der SVP Schweiz am Samstag im Kanton Neuenburg treffen. Dann hält der Baselbieter Peter Riebli ein Referat mit dem Titel «Warum es gerecht ist, den Grundbedarf bei der Sozialhilfe signifikant zu reduzieren».
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