Fahrrad-Boom in BernJede fünfte Fahrt mit dem Velo ist nicht genug
Fahrradfahrende machen in der Stadt Bern mittlerweile fast 20 Prozent des Verkehrs aus. Nun will die Stadt den Ausbau der Veloinfrastruktur vorantreiben.

Jede fünfte Fahrt in der Stadt Bern soll im Jahr 2030 mit dem Velo absolviert werden. So lautete das Hauptziel der Velooffensive, die der Gemeinderat vor neun Jahren ins Leben gerufen hat.
Umso mehr erstaunen die neusten Zahlen des Bundesamts für Raumentwicklung zum Verkehrsverhalten der Bevölkerung. Eine Analyse der Daten durch Patrick Rérat von der Universität Lausanne zeigt nämlich, dass die Stadt Bern ihr Ziel bereits vor zwei Jahren so gut wie erreicht hat.
«Es wäre nun sinnvoll, einen Veloanteil von 30 Prozent anzupeilen.»
Die Anzahl Velofahrender nahm in den letzten Jahren denn auch in keiner anderen Schweizer Stadt so stark zu wie in der Bundesstadt. Betrug 2015 der prozentuale Anteil der Fahrradfahrenden am gesamten Verkehrsaufkommen noch 14,8 Prozent, so lag er 2021 bei 19,2 Prozent.
Oder anders ausgedrückt: Bereits vor zwei Jahren wurde quasi jede fünfte Fahrt mit dem Fahrrad absolviert.
Für Michael Sutter ist das zwar durchaus Grund zur Freude. Zugleich sagt der Präsident von Pro Velo Bern aber auch, dass die 20 Prozent Veloanteil bis 2030 zwar realistisch, aber nicht besonders ambitioniert gewesen seien. «Nun wäre es sinnvoll, einen Anteil von 30 Prozent anzupeilen», sagt Sutter. Und er ergänzt: «Vom anderen Ziel der Velooffensive – eine sichere Infrastruktur für alle Fahrradfahrenden anzubieten – ist die Stadt nach wie vor weit entfernt.»
Fehlende Velospuren, gefährliche Kreuzungen
Dies zeigt, dass die Stadt Bern quasi zum Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden ist. Sutter sagt, dass die Infrastruktur nicht mit dem starken und raschen Anstieg des Veloverkehrs habe mithalten können. Zudem ist der Fahrradlobbyist auch der Meinung, dass die Stadt mehr machen könnte. «Die Velooffensive hat innerhalb der Verwaltung leider an Schwung verloren und sollte wieder mehr Priorität erhalten.»

Was er damit meint, illustriert er mit ein paar Beispielen:
Die Velohauptrouten an der Laupenstrasse, der Effingerstrasse oder der Thunstrasse haben nach wie vor keine durchgehende Velofahrbahn.
Die Kreuzungen am Guisanplatz, dem Henkerbrünnli oder am Burgernziel seien nach wie vor zu gefährlich und würden für Velofahrende abschreckend wirken.
Am Bahnhof gebe es nach wie vor viel zu wenig Veloabstellplätze.
Trotz dieses Handlungsbedarfs sagt aber auch Michael Sutter: «Die Stadt Bern steht im schweizweiten Vergleich nicht schlecht da.» Aber es brauche noch mehr Engagement, um das Gesamtziel zu erreichen, nämlich eine unterbruchsfreie und sichere Veloinfrastruktur für alle Menschen zwischen acht und achtzig Jahren.
Zudem erfordere auch der Boom der schnellen E-Bikes weiteres Handeln, damit gefährliche Überholmanöver aufgrund fehlender oder zu enger Velospuren möglichst vermieden werden könnten.
«Es bleibt noch viel zu tun»
In Bezug auf den Ausbau der Infrastruktur rennt Sutter bei der Stadtberner Verkehrsdirektorin Marieke Kruit offene Türen ein. Sie bestätigt den von Forscher Rérat errechneten Anstieg des Veloanteils und spricht von einem «schönen Resultat». Zahlenmässig habe der Gemeinderat das Ziel für 2030 «tatsächlich praktisch erreicht». Sie führt dies jedoch weniger auf einen Covid-Effekt zurück, der die Leute zum Umsteigen aufs Velo bewogen haben könnte, da der Veloanteil in Zürich im Jahr 2021 ja gesunken sei. Für sie liege der Schluss nahe, «dass die Veloförderung in der Stadt Bern der entscheidende Faktor sein dürfte».

Dies ist für Kruit aber kein Grund, nun zurückzulehnen. «Es bleibt noch viel zu tun.» Dabei denkt die Verkehrsdirektorin weniger an eine weitere Erhöhung des Anteils der mit dem Velo zurückgelegten Fahrkilometer, sondern an den Ausbau der Infrastruktur. In den nächsten Jahren gehe es darum, «dass wir die Veloinfrastruktur schaffen, die der Nachfrage entspricht und vor allem sicher ist». So werde auch die Grundlage für ein allfälliges weiteres Wachstum gelegt.
«Die Velo-Champions Bern und Basel wären in den Niederlanden am Schluss der Rangliste.»
Für die von Pro Velo erwähnten Hotspots für Velofahrende gebe es bereits «Projekte in der Pipeline». Die Velomassnahmen seien dort jeweils Teil von übergeordneten Projekten – wie etwa den Verkehrsmassnahmen beim Bahnhofsausbau. Im Umfeld des Bahnhofs bleibe der Bedarf an Abstellplätzen zudem hoch, trotz der geplanten Velostation in der Welle 7, sagt Kruit.
Wer steigt aufs Velo um?
Laut Verkehrsexperte Rérat macht die Stadt Bern mit der Velooffensive das Richtige. Denn die wichtigste Voraussetzung für deren Gelingen seien die Erstellung effizienter und sicherer Veloverbindungen und das Schaffen von Anreizen zum Umsteigen, etwa durch das Bereitstellen eines Veloverleihs wie Publibike. Nichtsdestotrotz sei das Potenzial in Bern noch lange nicht ausgeschöpft. «Die Schweizer Velo-Champions Bern und Basel wären in den Niederlanden punkto Velofreundlichkeit am Schluss der Städterangliste», sagt Rérat.
Wie Velolobbyist Sutter sieht Rérat Nachholbedarf bei der Anpassung der Infrastruktur ans E-Bike. Auch wenn in den meisten grösseren Städten die Mehrheit der Fahrradwege nach wie vor mit herkömmlichen Velos zurückgelegt würden, sei der E-Bike-Boom auch in Bern nicht aufzuhalten. Um das Nebeneinander von Velos mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu ermöglichen, brauche es genügend breite Velorouten und ausreichend Abstellplätze, sagt der Experte.

Offen ist zurzeit noch die Frage, wer die neuen Velofahrenden sind. Hierzu müssen die Zahlen des Bundes im Detail auf die Städte runtergerechnet werden. Schliesslich will die Stadt Bern bis 2030 auch den Anteil des Autoverkehrs um zwanzig Prozent reduzieren. Dies sorgt in der Regel für mehr politischen Sprengstoff als die Velooffensive, wenn es etwa um die Einführung von Tempo 30 oder die Aufhebung von Parkplätzen zugunsten von Velospuren geht.
Kruit kündigt entsprechende Zahlen für die Stadt «in den nächsten Wochen» an. Die Auswertung der zuletzt verfügbaren Daten aus dem Jahre 2015 hat gezeigt, dass es in der Stadt Bern bisher nicht gelungen ist, die Autofahrenden vom Umsteigen zu überzeugen. Vielmehr sind es Fussgängerinnen und Fussgänger oder Bus- und Tramfahrende, die sich fürs Velo als Transportmittel entschieden haben.
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