Japan steckt in einer Schneekrise
Japanische Skigebiete sind ein Tiefschneeparadies. Normalerweise. In diesem Jahr hat es noch nicht richtig geschneit.

Wahrheit und Schnee sind die wichtigsten Säulen, auf denen Andrew Lea in Japan sein kleines Geschäft aufgebaut hat. Er stammt aus St. Helens im Nordwesten Englands, wo sich die Jahreszeiten ziemlich ähnlich sind. Die Schönheit des Schnees entdeckte er deshalb erst so richtig, als er 1992 nach Japan übersiedelte. Er hatte in der Heimat ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen und schon erste Berufserfahrungen gesammelt, ehe er über ein Regierungsprogramm für besseren Englischunterricht nach Yuzawa in der Präfektur Niigata kam.
Die Stadt in den Bergen an Japans Westküste verschwindet in normalen Wintern unter meterhohem Schnee. Die umliegenden Skigebiete sind Attraktionen des Ortes, und weil es zunächst keine Informationen über die Pistenbedingungen auf Englisch gab, kümmerte sich Andrew Lea sich darum.
Heute ist seine Website snowjapan.comder wichtigste Anlaufpunkt für Ausländer, die wissen wollen, an welchem Skilift wie viel Schnee liegt. «Wir sind unabhängig, wir erzählen keine Lügen über das Wetter», sagt Lea (50), «was es dieses Jahr schwierig macht, weil wir oft Regen sagen müssen.» Er lacht. Obwohl er die Lage eigentlich überhaupt nicht lustig findet.

Japan erlebt in diesem Winter eine Schneekrise, wie man sie hier nicht kennt. Kalte, feuchte Luft weht normalerweise vom asiatischen Festland her über das Meer und schlägt gegen die Berge der japanischen Inseln. Die Folge sind sehr ergiebige Schneefälle, die manche Bergregionen zu einem Paradies für Tiefschneefreunde machen. Aber dieser Winter ist ungewöhnlich warm und trocken.
Liftbetreiber melden die schlimmste Saison seit Jahrzehnten, vor allem auf der Hauptinsel Honshu sind noch viele Pisten grün. Die Stadt Nagano in der gleichnamigen Präfektur, Gastgeber der Olympischen Winterspiele 1998, lag Ende Januar bei Frühlingstemperaturen zwischen braunen Bergen. Wer nahtlos weisse Landschaften erleben will, muss mit dem Bus in die Höhenlagen von Shiga Kogen oder Hakuba reisen – und selbst in Hakuba sind nicht alle Pisten offen.
Wie lange geht das noch so?
Schneeberichterstatter Andrew Lea kann nichts beschönigen. Auf seiner Website kann man eine detailreiche Wetterhistorie von praktisch jedem Skigebiet anklicken. Die Zahlen sind gnadenlos. Sie erzählen zum Beispiel, dass Ende Januar 2019 in Yuzawa insgesamt 778 Zentimeter Schnee gefallen waren. In diesem Jahr sind es 127 Zentimeter. Auch in Niigata kann man in den Höhenlagen Ski fahren, aber normalerweise liegt der Schnee eben überall. Lea schaut in seinen Garten. «Selbst in Jahren mit wenig Schnee lagen da bis zu eineinhalb Meter.» Jetzt liegt da nichts. «Es ist ein bisschen schockierend.»
Japan braucht seinen Schnee. Sogar mehr denn je, denn die rechtskonservative Regierung will das Profil Japans als Tourismusstandort weiterschärfen. Der Winter ist ein Alleinstellungsmerkmal mit heissen Quellen oder dem Schneeaffenpark in Yamanouchi und eben den diversen Skigebieten mit Tiefschneegarantie. In den vergangenen 15 Jahren sind nicht nur immer mehr Wintersportler aus dem Ausland nach Japan gekommen – Japans Schneetourismus ist auch ein beliebtes Geschäftsfeld für ausländische Investoren geworden.

Zumal Skifahren und Snowboarden hier noch etwas natürlicher wirkt als etwa auf den vielen künstlich beschneiten Pisten in den europäischen Alpen. Mehr als zwei Drittel der japanischen Skigebiete verzichten auf sogenannte Schneekanonen, die bei kaltem Wetter Wasser in Eiskristalle verwandeln. «Weil sie sie nicht gebraucht haben», sagt Andrew Lea. Die Frage ist allerdings: Wie lange geht das noch so?
Japans Liftbetreiber haben bisher noch nicht sehr intensiv über die Folgen des Klimawandels nachdenken müssen. Aber in diesem Jahr meldet Japans Wetteramt Schneeminusrekorde auf Honshu. Schon jetzt scheint klar zu sein: Toll wird die Skisaison nicht mehr. Andrew Lea will den Winter nicht vor dem Frühling abschreiben, trotzdem sagt er: «Die Leute werden darüber reden, was gewesen ist. Ist das ein einmaliger Ausfall? Oder etwas, das uns beunruhigen sollte?» Wobei Lea glaubt, dass teure Kunstschneemaschinen für viele Liftbetreiber nicht infrage kommen. «Es gibt über 500 Skihänge in Japan, teilweise nur ganz kleine mit ein, zwei Liften.» Ohne Naturschnee werden die verschwinden.
Zwei Meter Schnee weniger
Es gibt auch Skiort-Vermarkter in Japan, die in dieser Winterdürre einen zuversichtlichen Eindruck machen. Scott Mountford zum Beispiel. Der Australier ist der Sprecher des Hanazono-Resort in Niseko, das zusammen mit drei anderen Betreibern das Skigebiet Niseko United am Berg Annupuri am schmalen Südzipfel der Nordinsel Hokkaido vermarktet. Nach internationalen Ranglisten spielt Niseko in einer Liga mit Aspen in den USA oder St. Anton in Österreich. Erst in dieser Saison hat die Hongkonger Mutterfirma des Hanazono-Resorts hier ein grosses Hotel eröffnet.
Die Saison lief schleppend an, aber wegen des günstigen Mikroklimas und sibirischer Kaltluft stellt Mountford fest: «Uns geht es viel besser als vielen anderen Orten.» Mehr als fünf Meter hat es in diesem Winter in Niseko schon geschneit, das sind laut snowjapan.com zwei Meter weniger als 2019 zur selben Zeit, aber etwas mehr als in der durchwachsenen Saison 2016/17 – genug auf jeden Fall, um nicht über eine Krise oder die Anschaffung von Schneekanonen reden zu müssen. Im Gegenteil.
Wenn der Klimawandel den Wintersport auf der Hauptinsel einschränkt, könnte Niseko gewinnen. Schon in dieser Saison hat Mountford beobachtet, dass Touristen von Honshu-Skigebieten nach Niseko umbuchen wollten. Für Prognosen sei es zu früh, sagt er, «aber ich glaube, wir werden auf jeden Fall eine Veränderung erleben».
Andrew Lea hofft, dass der Winter im nächsten Jahr mit gewohnter Kälte zurückkehrt. Um den Geschäftserfolg seiner Website hat er dabei weniger Angst: Je unsicherer die Schneeverhältnisse, desto grösser ist schliesslich der Bedarf nach Information. Lea sorgt sich eher um seine Seele. Er vermisst den Schnee, sein Glitzern im Sonnenlicht, das Knirschen unter den Sohlen. Er hat sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie es sein könnte, wenn der Schnee aus Yuzawa verschwindet. Denn der Schnee kam bisher immer. Manchmal sogar in solchen Massen, dass die Einheimischen ächzten. «Eines lerne ich aus dieser Saison», sagt Andrew Lea, «wir sollten den Schnee nicht für so selbstverständlich nehmen, wie wir das immer getan haben.»
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