Vor dem BeJazz-WinterfestivalIst Jazz der neue Punk?
Wie geht es eigentlich der Schweizer Jazzszene? Welches sind die neuesten Trends? Und welche Rolle spielt dabei Bern? Wir haben bei Festival-Leiter Fabio Baechtold nachgefragt.

Ihr BeJazz-Winterfestival ist eines der wichtigsten Schaufenster für Schweizer Jazz. Beginnen wir also mit der Begrifflichkeit: Was ist Jazz für Sie und wo hört Jazz auf?
Nun, das ist ein steiler Einstieg. Klassischerweise könnte man sagen, dass Jazz eine Musik ist, die auf Offenheit und Improvisation beruht, bei der also die Interpretation wichtiger ist als die Komposition. Doch derzeit gibt es Strömungen, die genau das Kompositorische in den Vordergrund rücken. Es ist also schwierig, Grenzen zu ziehen.
Ist Jazz also eher ein Lebensgefühl als ein Stil mit musikalischen Regeln?
Es gibt Leute, die das genau so sehen. Es gibt aber auch jene, die der Meinung sind, dass die altbewährte Swing-Form von Thema/Solo/Thema der Grundstein des Jazz ist. Mich leitet eher der Gedanke der Offenheit und des Zulassens, was im Moment entsteht.
Sie waren bis 2021 Präsident der städtischen Musikkommission – hatten also den Überblick über das Geschehen. Wie geht es der Schweizer Jazzszene?
Es wird extrem viel produziert, doch viele hielten ihre Veröffentlichungen zurück, bis die Clubs nach der Pandemie wieder öffnen durften. Und jetzt herrscht auf den Bühnen Stau. Es ist also nicht ganz einfach. Andererseits haben viele Musikerinnen und Musiker in den Lockdowns intensiv an ihrem Sound gefeilt, was man den aktuellen Produktionen anmerkt.
Gibt es Hotspots, in denen gerade besonders Spannendes passiert?
Am meisten passiert wohl in Zürich. Viele gehen dorthin, weil das Reservoir an Mitmusikerinnen und -musikern am grössten ist. Aber auch Bern ist ein gutes Pflaster. Mit durchschnittlich zwei Jazzkonzerten pro Tag besteht ein Angebot wie in einer grossen Metropole.
Jazz ist wie Wein. Wenn er neu ist, ist er nur für die Experten, aber wenn er älter wird, will ihn jeder haben.
Und das Publikum? Strömt es wieder in die Jazzclubs?
Bei uns entwickelt sich diese Saison viel besser als die letzte. Noch sind wir nicht auf dem Vor-Pandemie-Niveau, aber der Trend stimmt uns klar zuversichtlich.
Apropos Trend: Welches sind die markantesten Trends im aktuellen Schweizer Jazz?
Wohl der, dass es kaum mehr Berührungsängste zu anderen Genres wie Indie, Pop oder Rock gibt. Das ist zwar nicht neu, aber bei der jüngeren Generation fast schon eine Selbstverständlichkeit. Es wird kompromisslos ausprobiert.
Mit dem Ergebnis, dass allerhand verkopfte Hochschul-Popmusik und verwässerter Jazz entsteht.
Nicht alles, was ausprobiert wird, ist per se gut. Da stimme ich mit Ihnen überein. Pop wird von jazzgeschultem Personal oft unnötig verkompliziert, obwohl reine Schönheit oft genau von der Einfachheit lebt. Trotzdem entstehen in dieser Welt zwischen Pop und Jazz gerade sehr spannende Dinge.
Jazz soll die Stimme der Freiheit sein: Geht raus und improvisiert, geht Risiken ein und seid keine Perfektionisten – überlasst das den klassischen Musikern!
Der Jazzhistoriker Gioia sagt, dass ihm der Jazz chaotisch vorkomme. Anders als in der Popmusik seien kaum lineare Trends auszumachen. Würden Sie das bestätigen?
Ganz so wirr finde ich den Jazz nicht. Es gibt immer wieder Bands, die andere befruchten und eine Art Minitrend auslösen. Aber dass sich das ganze Genre in eine einzige Richtung bewegen würde, ist schon deshalb kaum möglich, weil es «den Jazz» als klares, eng gefasstes Genre gar nicht mehr gibt.
Jazz galt lange als vornehmes Mittel der gesellschaftlichen Abgrenzung – das Jazzpublikum als feingeistige Bonvivants. Ist dem immer noch so?
Es gibt bereits unter den diversen Anbietenden in Bern eine riesige Publikumsvielfalt. Im Marians oder beim Swiss Jazz Orchestra wird man ein anderes Publikum finden als bei uns oder bei Bee-Flat im Progr.
Jazz ist die einzige Musik, in der dieselbe Note Abend für Abend gespielt werden kann, aber jedes Mal anders.
Eine andere These besagt, dass Jazz der neue Punk sei. Würden Sie dem eher zustimmen?
(lacht) Das Durchschnitts-Jazzpublikum als Punks zu bezeichnen, fände ich etwas verwegen. Aber es gibt schon gute Gründe, warum sich immer mehr Junge wieder für Jazz interessieren. In der Klassik weiss man, was einen erwartet. Am Popkonzert bezahlt man Riesensummen, um die Refrains mitzusingen oder die Superstars auf der Bühne zu sehen. Jazz ist da oft draufgängerischer. Man weiss nicht genau, worauf man sich einlässt – in dieser Hinsicht steckt durchaus etwas Punk im Jazz.
Es scheint, dass immer mehr Frauen den Jazz gestalten. Stimmt das oder werden sie einfach besser sichtbar gemacht?
Es sind mehr und sie nehmen immer wichtigere Rollen ein. Früher waren Jazzmusikerinnen eine Randerscheinung oder traten nur als Sängerinnen oder Pianistinnen auf. Das ist heute anders. Die Anstrengungen der letzten Jahre tragen Früchte. Dennoch gibt es noch immer Kreise, die anmuten wie reine Männerzirkel, und von einer ausgeglichenen Präsenz auf den Bühnen sind wir noch meilenweit entfernt.
Klingt weiblicher Jazz anders?
Nein. Früher wurden dem «männlichen Jazz» noch Attribute wie höher, schneller, lauter zugeteilt. In dieser Hinsicht haben sich die Männer durchaus weiterentwickelt. Und es gibt ja auch Frauen, die gern halsbrecherisch nach vorn spielen.
Für mich ist Jazz eine lebendige Musik. Es ist eine Musik, die seit ihren Anfängen die Gefühle, die Träume und die Hoffnungen der Menschen zum Ausdruck gebracht hat.
Am diesjährigen Festival begrüssen Sie mit Nils Petter Molvaer und Erik Truffaz gleich zwei internationale Stars der Szene. Genügt Ihnen die Schweiz nicht mehr?
Doch. Beide Projekte habe ich nicht wegen der Stars gebucht, sondern weil ich das Konzept bestechend fand. Es hätte wohl sicher mit anderen Gästen funktioniert. Wenn ich unser Programm buche, gehe ich oft von Künstlerinnen und Künstlern aus, die mich interessieren und denen ich ganz einfach vertraue. Dass viele Schweizer Jazzmusikerinnen und -musiker unterdessen auch international gut vernetzt sind, ist ja ein gutes Zeichen.
Das Festivalspektrum reicht heuer vom 26-köpfigen Grossorchester über das klassische Pianotrio bis hin zum Schlagzeugerduell. Worauf freuen Sie sich besonders?
Zum Beispiel auf den Donnerstag, weil ich gespannt bin, ob es gelingt, dass nach dem 26-köpfigen Klangkörper der Pianist Florian Favre solo bestehen kann. Nein, ich bin nicht gespannt, ich bin überzeugt davon, dass es ihm gelingt, und freue mich auf diesen Kontrast. Auch das Duell der Schlagzeuger Domi Chansorn und Arthur Hnatek weckt meine Neugier, weil beide an Improvisation und groovender Clubmusik interessiert sind. Ein Gebiet, in dem ich grosse Verheissungen sehe.
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