
Ach, die Schweiz und der Literaturnobelpreis! Die Ausbeute ist spärlich: Thomas Mann hat hier nur Villen bewohnt, der naturalisierte Hermann Hesse ist gebürtiger Schwabe, Elias Canetti Weltbürger vom äussersten Rand der k.u.k. Monarchie. Frisch und Dürrenmatt - nie erwählt, desgleichen Charles-Ferdinand Ramuz. Ein einziger schweizerischer Schweizer hat die bedeutendste Auszeichnung der literarischen Welt je erhalten, und der ist, bis auf eine einzige Rede gründlich vergessen: Carl Spitteler (1845-1924) . Er erhielt den Nobelpreis 1920, rückwirkend für das Jahr 1919, nachdem er in den vergangenen Jahren immer wieder vorgeschlagen und durchgefallen war.
Das ist nun 100 Jahre her, mit aktuellen Preisträgern für die Schweiz ist derzeit kaum zu rechnen (obwohl im Oktober in Stockholm gleich zwei gekürt werden, davon einer wieder rückwirkend), und so versucht man hier wenigstens den Jubiläumslaureaten wieder ins Licht zu rücken.

Ein eigens gegründete Verein koordiniert Veranstaltungen aller Art, von der Ausstellung bis zu «Spittelers Schmetterlingsweg» , auf einem Festakt im Geburtsort Liestal sprach immerhin Bundesrat Alain Berset, im Sommer wird der «Olympische Frühling», Spittelers Hauptwerk, ein 20'000-Verse-Epos, in Luzern an mehreren Abenden vorgetragen, und bei Nagel & Kimche ist ein Auswahlband erschienen, der einige Schneisen in das umfangreiche Œuvre schlägt und dem, der sich nicht an den integralen «Frühling» heranwagt, das Kennenlernen erleichtert.
«Unser Schweizer Standpunkt»
Der Band enthält Erzählungen und Gedichte, den Roman «Imago», Auszüge aus den Epen (Spitteler war ein hoffnungsloser Vertreter dieser überkommenen Gattung) sowie Aufsätze und Reden, darunter natürlich «Unser Schweizer Standpunkt», in der der Dichter im Dezember 1914 für Äquidistanz und Fairness gegenüber den kriegführenden Mächten warb und zur inneren Einheit des Landes aufrief. Darin stehen die schönen Sätze: «In der Schweiz sehen wir von niemandem ab. Wäre die Minorität noch zehnmal minder, so würde sie uns dennoch wichtig wägen. Es gibt in der Schweiz auch keine Bruchteile.» Bedenkenswert in der heutigen Zeit, da äusserst knappe Mehrheiten bei Volksentscheiden gern mit dem absoluten Volkswillen, wenn nicht der Wahrheit gleichgesetzt werden.
Demosophen, Demologen und Demolalen
Verblüffend aktuell und viel polemischer der sehr viel frühere, thematisch verwandte Essay «Vom Volk» (1886), in dem Spitteler sich für die repräsentative Demokratie ausspricht und hinter undifferenziertem Volkslob eine eigentliche Elitenverachtung ausmacht. Sehr hübsch und wie auf Blocher, Köppel und ihresgleichen geprägt die Formulierung von den «Demosophen, Demologen und Demolalen», die ständig das Volk im Munde führen, wo sie sich doch «selbst als ideales, inkarniertes Solovolk» begreifen.
Überhaupt konnten von Spittelers Schweizer Standpunkt auch Giftpfeile auf sein Land ausgehen. Derselbe Mann, der den Gotthardpass lyrisch umkränzte - im Auftrag der Gotthardbahn-Direktion -, lässt seinen Romanhelden Viktor die Alpenschwärmerei seiner Landsleute verspotten: «Sie haben sie ja doch nicht gemacht, hätten sie sie machen müssen, so wären sie wahrscheinlich etwas flacher ausgefallen.»
Anderes gehört ganz der Zeit, aus der es stammt, und den damaligen Kämpfen; etwa Spittelers Ablehnung von «sittlichen» Forderungen an das Kunstwerk. «Ist die Wahrheit ein Schwein oder nicht?», fragt er da rhetorisch, wenn ja, dürfe man das nicht dem Realisten, nur der Wahrheit vorwerfen.
Der Altstar und der Jungstar der Germanistik
Herausgegeben haben den Band neben der Spitteler-Spezialistin Stefanie Leuenberger Peter von Matt, Altmeister der Schweizer Germanistik, und Philipp Theisohn, der neue Star des Fachs. Von Matt präpariert in Spittelers Werk die «Chiffre des trotzigen Einzelnen in der Masse der Gleichgeschalteten» heraus. Explizit findet sich diese Chiffre im Aufsatz «Die Persönlichkeit des Dichters», in der Spitteler die notwendige Asozialität des schöpferischen Menschen hervorhebt, der als Privatperson unleidlich sein muss, da er sich ganz seinem Werk, seinem Ideal, seiner inneren Stimme widmen muss.
Auch in diesem pathetischen Text fehlt es nicht an polemischer Verve: So beklagt er die schwindende Fähigkeit der Zeitgenossen, «ein Kunstwerk aufrichtig zu geniessen», weshalb man «seine Visitenkarte beim Künstler abgibt»: Gemeint ist die offenbar schon damals (der Text stammt von 1892) grassierende Unsitte, von Künstlerporträts, Interviews und Homestorys tiefere Einsichten zu erwarten als vom Kunstwerk selbst.
«Er schreibt lustig: welches Glück!»
Dass Walter Benjamin Spitteler einst enthusiastisch als «Dichter der heutigen Jugend» pries, ist heute nur schwer nachzuvollziehen. Nietzsche empfahl ihn seinerzeit als «ungewöhnlich nachdenklichen und feinen Kopf», mit dem Zusatz: «er schreibt lustig: welches Glück!» Auch Humor ist dem Zeitgeschmack unterworfen; so wirkt heute manches nur unfreiwillig komisch, etwa, wenn Spitteler die Literaturwissenschaft «Martha» nennt - als fleissige Schwester der Poesie - oder wenn im Roman «Imago» Sätze stehen wie «Darob knirschte sein Unwille».
Aber gerade dieser Roman (nach dem Sigmund Freud eine psychoanalytische Zeitschrift benannte) ist das stärkste Stück des Bandes. Er spielt das urschweizerische Thema von der Heimkehr aus der Fremde durch - in eine Heimat, die fremd geworden ist. Viktor ist Spittelers alter Ego, ein herrischer, empfindlicher, von sich überzeugter und auf seine Umgebung herabschauender Dichter, der sich eine Jugendliebe zur Seelenverwandten erkoren hat und, als er sie gutbürgerlich verheiratet als «Frau Direktor Wyss» wiedertrifft, am Boden zerstört ist.
Alles, was Spitteler im Aufsatz über die «Dichterpersönlichkeit» ernst und etwas verbiestert vertritt, kehrt hier wieder - literarisch zugespitzt und ins Tragikomische gewendet. Spitteler gelingt es, die eigene Empfindlichkeit ins Narzisstische, ja Absurde zu steigern - und damit ins wirklich Komische. Er macht der Kleingeisterei seiner Heimatstadt den Prozess - «In der Hölle der Gemütlichkeit» heisst eine Kapitelüberschrift -, aber zugleich dem Ankläger. In einer wendigen, mal affektgetriebenen, mal analytischen Sprache, voller Zorn und voller Selbstironie. Das ist lesenswert.
Carl Spitteler. Dichter, Denker, Redner. Hg. von Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt. Nagel & Kimche, Zürich 2019. 470 S., ca. 43 Fr.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch
«Ist die Wahrheit ein Schwein oder nicht?»
Vor 100 Jahren erhielt Carl Spitteler den Literaturnobelpreis. Der bis heute einzige Schweizer Preisträger ist gründlich vergessen. Ein Auswahlband zeigt: Die Lektüre lohnt sich.