«In meiner Welt gibt es keine Grenzen»
Wintersport-Sensation Ester Ledecka hält sich selber für verrückt – und Regeneration für etwas Nebensächliches.

Sie wirkt scheu und trägt doch dick auf. Statt Marketing zu studieren, wäre sie lieber Quantenphysikerin geworden, sagt Ester Ledecka beiläufig, nur die Zeit habe dafür gefehlt. Sie hätte es sich zugetraut, die Tschechin, die jede Aufgabe mit einer verblüffenden, aber auch verwirrenden Respektlosigkeit angeht. So sagt sie, irgendwann wolle sie auch als Windsurferin an Olympischen Spielen teilnehmen.
Ledecka, das ist die Snowboarderin, die seit 2015 in den Parallelrennen allen davonfährt, zweimal Weltmeisterin und in Pyeongchang Olympiasiegerin wurde. Und es ist die Skifahrerin, die seit 2016 im Weltcup dabei ist, vier Top-15-Plätze vorzuweisen hat, in Südkorea sensationell Olympiagold im Super-G gewann. Innert einer Woche fuhr die 23-Jährige in die Geschichtsbücher, etwas Vergleichbares hatte es an Winterspielen zuvor nicht ansatzweise gegeben.
«Ester ist ein Genie», meint Lindsey Vonn. ORF-Expertin Alexandra Meissnitzer bezeichnete sie unlängst als «Maschine». 38 Rennen bestritt Ledecka im vergangenen Winter; es wären weitaus mehr gewesen, hätte es keine Überschneidungen gegeben. Nächsten Februar finden die Ski- und Snowboard-Weltmeisterschaften zur selben Zeit statt, Ledecka dürfte sich für die Ski-Titelkämpfe entscheiden. Die Tochter eines erfolgreichen tschechischen Schlagersängers und Enkelin eines Eishockey-Weltmeisters wurde als Kind zu Hause unterrichtet, in ihrem Leben hat sich früh vieles um den Sport gedreht. Sie sagt: «So wird es immer bleiben.»
Sind Sie ein Fluch für den Frauenskisport?
Sollte es so sein, dann entschuldige ich mich.
Wenn die Dominatorin des Snowboard-Weltcups bei den Alpinen vorbeischaut und nebenbei Olympiasiegerin im Super-G wird, wirft das kein gutes Licht auf die Konkurrenz.
Ich hatte nie das Ziel verfolgt, jemanden lächerlich zu machen oder blosszustellen. Es muss frustrierend sein für einige Athletinnen, und es gibt Leute, die in mir tatsächlich eine Gefahr sehen. Doch fast alle Reaktionen sind positiv. Ich werde als Unikum angeschaut, aber nicht ausgegrenzt. Wenn ich jemanden verletze, tut mir das leid.
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Video: Ledecka sorgt an Olympia für Sensation
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In welcher Sportart ist es schwieriger, zur Spitze zu gehören?
Im Skifahren. Die besten 30 pro Disziplin sind in der Lage, ein Top-10-Ergebnis herauszufahren. Bei den Snowboardern sind es maximal 15, 16, die halbwegs mithalten können.
Sie halten Ski in den Händen, tragen Snowboard-Kleidung. Haben Sie eine Präferenz?
Nein. Die Mehrheit der Leute betrachtet mich als Skifahrerin, weil Skirennen stärker interessieren. Man will mich in eine Richtung drängen, weil das Abnormale offenbar abschreckt. Darum werde ich oft gefragt: Sind Sie Boarderin? Oder Skifahrerin? 99 Prozent der Menschen sagen mir, ich müsste mich für eine Sache entscheiden. So verrückt wie ich sind nicht viele auf diesem Planeten.
Halten Sie sich für etwas Besonderes?
In Pyeongchang hiess es, ich hätte Starallüren bekommen wegen der Geschichte mit der Skibrille an der Pressekonferenz. Dabei war ich einfach nicht geschminkt, weil ich erwartet hatte, unbemerkt aus dem Zielraum laufen zu können nach dem Super-G. Ich fühle mich nicht als Star.Besonders an mir ist, dass ich nichts für unmöglich halte.
Sie setzen sich keine Grenzen?
Wieso sollte ich? In meiner Welt gibt es keine Grenzen. Niemand hatte vor mir das Ziel gehabt, im Ski und Snowboard zur Spitze zu gehören. Aber wie viele Dingeauf der Welt gibt es, die nicht zu erreichen sind? Viele Menschen trauen sich zu wenig zu und schöpfen ihr Potenzial nicht aus, weil sie sich eingrenzen. Ich strebe danach, im Ski-Weltcup eine Kristallkugel zu gewinnen. Es wird extrem schwierig. Aber ich brauche hohe Ziele und Visionen.
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Video: Ledecka schreibt Geschichte
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Worauf gründet diese Einstellung?
Die habe ich von meinem Grossvater geerbt. Er hat mir gezeigt, wie man sich in den Sport verlieben kann und wie wunderbar sich das anfühlt. Er schreibt auch mein Fitnessprogramm.
Ihr Opa Jan Klapá? wurde 1972 Eishockey-Weltmeister. Ist er ein strenger Coach?
Streng braucht er nicht zu sein. Mich muss man nicht pushen, mich muss man bremsen. Das war schon als Kind so, und nicht für alle angenehm.
Inwiefern?
Ich war sehr aktiv, hatte extrem viel Energie und wollte allesausprobieren. Dieser Drang ist geblieben: Heute mache ichauch Musik, lerne ein wenig Griechisch, liebe das Kickboxen. Skifahren lernte ich als Zweijährige: Ich sah die Ski meines Bruders, schnallte sie an und fuhr ein Hügelchen runter, wo ich irgendwie aufgefangen wurde. (lacht)
Und Ihr riesiges Talent im Schnee wurde rasch erkannt?
Nein, es gab so manches begabtere Mädchen als mich. Aber ich hatte den grössten Spass unddie grösste Ausdauer. Ich fuhr tausendmal den Berg hoch und runter. Das ist noch heute so.
Fahren Sie deshalb im Sommer Skirennen in Südamerika und nach der Saison drittklassige Slaloms und Riesenslaloms,die Ihnen an und für sich nichts bringen?
Wenn die Weltcup-Saison vorbei ist, bin ich sehr traurig. Dann suche ich im Kalender nach Rennen. Meinen Trainern gefiel das lange nicht. Aber sie haben realisiert, dass es mir gut tut. Der Sport ist ein Hobby geblieben für mich. Rennen zu fahren, zu trainieren – es ist nie eine Qual, es ist nie ein Müssen.
Die meisten Leistungssportler predigen die wachsende Bedeutung von Erholung und Regeneration . . .
. . . ich bin doch erst 23 und noch voll belastbar! Meine Philosophie ist: Tue das, was dir Spass macht, und du tankst Energie – auch wenn es anstrengend ist.
Wie gelingt es Ihnen, zwei Sportarten unter einen Hut zu bringen?
Indem ich oft aus dem Bauch heraus entscheide. Manchmal weiss ich drei Tage im Voraus nicht, an welchem Rennen ich teilnehmen werde, ob ich zum Ski- oder Snowboard-Weltcup reise. Viele Rennen überschneiden sich. Ich wähle dann einfach die Strecken aus, die mir liegen. Man sollte flexibel sein, und man muss überall schlafen können. (lacht) Ich steige ins Auto, lege mich hinten hin, und nach einerMinute träume ich schon.
Sie haben keinen konkreten Wettkampfplan?
Grundzüge bestehen schon. Wichtig ist, dass ich nicht darüber nachdenke, was ich in der anderen Sportart gerade verpasse, sonst würde mein Kopf verrücktspielen. Es ist unmöglich, überall so viel zu machen, wie ich mir das vorstelle.
Auf dem Snowboard sind Sie seit 2015 das Mass der Dinge, auf den Ski ist im Weltcup Platz 7 Ihr Bestergebnis. Werden Sie künftig stärker in den Alpinbereich investieren?
Nein – weil ich seit langem mehr Zeit auf den Ski verbringe als auf dem Brett. Das Verhältnis ist 65 zu 35 Prozent. Skifahren ist anspruchsvoller, mit den Abfahrtstrainings vor den Rennwochenenden, mit den komplexen Besichtigungen. Da bin ich grün hinter den Ohren, während ich beim Boarden von der Erfahrung profitiere. Für alles reichen die 24 Stunden am Tag nicht.
Was kommt zu kurz?
Skitests zum Beispiel. Die sind extrem aufwendig, zudem fehlt mir das Know-how. Deswegen greife ich häufig auf Material von anderen Atomic-Fahrerinnen zurück. Früher bekam ich Ski von Tina Weirather, letzte Saison welche von Mikaela Shiffrin.
Bleibt genug Zeit für dieFamilie, für Freunde?
Meine Mutter reist mit mir, die Familie sehe ich oft, das bedeutet mir viel. Ansonsten bin ich nicht der Typ, der sich intensiv dem sozialen Leben widmet. Ich brauche kaum Freunde und mache vieles mit mir selbst aus. Seit den Olympiasiegen kriege ich daheim in Tschechien aber viele Heiratsanträge. (lacht)
Stichwort Heimat: Seit Wochen befinden Sie sich wegen unterschiedlicher Vorstellungen in Werbefragen im Clinch mit dem tschechischen Skiverband. Hat sich die Lage beruhigt?
Was das Snowboarden betrifft ja, sonst leider nicht. Es ist eine schlimme Situation. In ersterLinie geht es um die Aufteilung von Werbeflächen auf dem Renndress und dem Helm. Ich hoffe, meine Agentur klärt die Angelegenheit bald.
Sie kokettieren gar mit einem Nationenwechsel.
Ich bin seit Jahren mit einemPrivatteam unterwegs, diese Probleme bestehen schon lange. Mit den Olympiasiegen haben sich neue Möglichkeiten ergeben, nun will jeder davon profitieren, was die Sache noch komplizierter macht. Einigen wir uns nicht, kann mich der Verband daran hindern, Skirennen zu fahren. Was eine Tragödie wäre.
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