In Beirut lauern die Revolutionäre
Demonstranten fürchten, der Libanon könnte dem Konflikt zwischen den USA und Iran zum Opfer fallen.

Revolutionäre müssen Visionen haben, Revolutionäre müssen mutig sein. Und sie müssen viel aushalten können: Angriffe, Gummigeschosse und Tränengas. Fast schwieriger ist aber manchmal die Zeit, in der nichts passiert. Im Libanon etwa müssen Umstürzler wie Abdou und Othman, Ali, Basem und Abed gerade zähe Langeweile ertragen, klamme Kälte und auch, dass die Vokabel Dusche vorerst aus ihrem Wortschatz gestrichen ist. Seit Oktober halten sie Beiruts Stadtmitte besetzt, die Tage, durch die sie der Rausch des Adrenalins trug, liegen hinter ihnen. Parlament und Regierung haben sich hinter Stacheldrahtrollen verschanzt, davor erstreckt sich nun ein Zeltlager, das vom zentralen Märtyrerplatz bis zum Regierungssitz Grand Serail reicht. Umgeben von Grafitti, Trümmern und ein paar in Abrufbereitschaft dösenden Kamerateams.
Inzwischen kommen nicht mehr Zehntausende. Hier harrt nur noch der harte Kern aus. Die Zeltstadt hat jedoch eine beeindruckende Infrastruktur, mit Müllabfuhr, Leihbibliothek, Wasserpfeifencafé und einer Gemeinschaftsküche, die auch viele der Strassenkinder versorgt, die der Bürgerkrieg im Nachbarland Syrien in die Stadt getrieben hat. Politisch geht derzeit nichts voran. Seit im fernen Bagdad der iranische General Qassim Soleimani von einer US-Drohne getötet wurde, fürchten die libanesischen Demonstranten – ähnlich wie die im Irak –, zum Kollateralschaden des US-Iran-Zwists zu werden.

Trotzdem bleiben sie. Abdou und Othman, Ali, Basem und Abed sind zwischen 23 und 26 Jahre alt und wollen ihre Nachnamen nicht nennen. Sie teilen sich ein garagengrosses Zelt gleich neben dem Symbol des Aufstands, einer riesigen, auf Holzplatten gemalten Faust mit der Aufschrift Revolution. Das Original haben Angreifer der Hizbollah-Miliz im November niedergebrannt, jetzt reckt sich «Version 2.0» in den regennassen Himmel.
Schluck aus der Wodkaflasche
Inzwischen ist die Gewalt seltener geworden, auch vonseiten der Polizei, die Othman, Basel und Abed zum letzten Mal am 15. Dezember mit Gummigeschossen tiefe Wunden zufügte. Jetzt kämpfen die Revolutionäre eher mit Wetter und Langeweile: Seit Tagen regnet es. Wenn diese Sintflut die politische Kaste des Libanon wegspülen würde, hätten die Jungs nichts dagegen. Um aber zu verhindern, dass ihre Matratzen wegschwimmen, haben sie in ihrem Zelt einen Boden aus Paletten eingezogen.
Im Zelt sitzen sie um einen kleinen Dieselofen, an dessen Rohr sie ihre Käsesandwiches wärmen. Heute ist es sogar zu nass, um zur Küche zu laufen. Die Langeweile bekämpft Abdoud mit einem gelegentlichen Schluck aus der Wodkaflasche. Basem und Othman rollen ab und zu einen Joint. Die fünf gehören nicht zu den intellektuellen Vordenkern der Bewegung, sind aber seit dem ersten Tag dabei. Bis auf Abdoud hatte keiner von ihnen je Arbeit. Und seit ihm die Kaffeekette, bei der er servierte, den Lohn von umgerechnet 1000 Franken im Monat auf 300 kürzte, ist auch Abdoud von Beruf Revolutionär. Und er will bleiben, bis – ja, bis eigentlich was passiert?
Als Premierminister Saad Hariri nach drei Wochen Demonstrationen zurücktrat, war das ein Erfolg. Aber die Protestbewegung wollte nicht, dass nur der Kopf der Regierung wechselt, sie forderte eine Generalinventur. Dass im Land selbst grundlegende Dinge wie Stromversorgung oder Müllentsorgung nicht ansatzweise funktionieren, liegt nach ihrer Ansicht auch am politischen System. Die Verfassung, die 1990 nach 15 Jahren Bürgerkrieg in Kraft gesetzt wurde, soll die Macht zwischen den Religionsgruppen ausbalancieren: Der Staatspräsident muss ein Christ sein, den Premierminister stellen die sunnitischen Muslime, der Posten des Parlamentssprechers geht an einen Schiiten. Was als Sicherung von Teilhabe gedacht war, verkam aber zu einem klientelistischen System: Politiker sehen sich weniger der Nation als der eigenen Gruppe verpflichtet.
Zwitter aus Miliz und Partei
Gegen eine Generalinventur hat aber zum einen die Elite etwas, die nach langen Verhandlungen einen originellen Kandidaten für das Amt des Regierungschefs präsentierte: den gerade zurückgetretenen Saad Hariri. Zum anderen ist man im Hauptquartier der schiitischen Hizbollah strikt gegen eine Veränderung des Systems, das dem Zwitter aus Miliz und Partei eine Art Vetomacht zusichert. Ihre Schutzmacht Iran sieht die überkonfessionellen Proteste, die fast zeitgleich auch im Irak ausbrachen, als Bedrohung des iranischen Hegemonieprojektes, das die Quds-Brigaden des getöteten Soleimani mit viel Geld und Geduld aufgebaut haben.
Wie im Irak gingen schiitische Milizen auch im Libanon mit Gewalt gegen die Demonstranten vor – allerdings mit Knüppeln, nicht mit Kugeln. Während im Libanon ein Demonstrant starb, wurden im Irak mindestens 500 Protestierende getötet. Als Qassim Soleimani der Tod aus der Luft ereilte, kam er gerade von einem Besuch beim libanesischen Hizbollah-Chef Hassan Nasrallah. In den Schiitenvororten im Beiruter Süden hängen seither an fast jeder Ecke Porträts des «Märtyrers». Wer vom Flughafen in die Stadt fährt, könnte denken, in Bagdad sei der Staatspräsident des Libanon getroffen worden. Im Wasserpfeifenzelt am Märtyrerplatz dient ein Bild des iranischen Generals hingegen als Fussabstreifer, auf dem Mina Hassan grinsend ihre nassen Stiefel platziert.
Abdou und Othman, Ali, Basem und Abed stellen sich darauf ein, ein wenig länger auf dem Platz zu bleiben.
Die Rechtsanwältin verbringt die Nächte daheim bei Mann und Kindern, tagsüber ist sie aber in der Zeltstadt. «Der Iran konnte in der ganzen Region Fuss fassen, weil unsere Länder so schlecht regiert werden, dass sie auf allen Ebenen instabil sind», sagt sie. «Aber die Ironie ist: Durch die von Soleimani aufgebauten Bewegungen sind die Staatsapparate noch mal schwächer geworden.» So schwach, dass bald nichts mehr funktionierte und die Leute vor Wut auf die Strasse gingen. «Das ist überall dasselbe – hier wie in Bagdad.» Einsicht erwartet sie nach dem Tod Soleimanis aber nicht vom Iran. Sie fürchtet eher, dass auf Anweisung Teherans bald wieder Gewalt und Adrenalin auf den Märtyrerplatz zurückkehren.
In den Hinterzimmern der Machtzirkel läuft es jedenfalls wie immer: Als Ex-Premier Hariri schliesslich doch zurückzog, wurde ein Universitätsprofessor mit der Regierungsbildung beauftragt. Hassan Diab gilt zwar als Mitglied des Establishments, er kündigte aber an, zumindest eine der Forderung der Demonstranten zu erfüllen und eine Expertenregierung anzustreben. Wenigstens war das bis Mittwoch so. Dann bestellte ihn Präsident Michel Aoun ein und orderte ein klassisches Kabinett mit Vertretern aus den Reihen von Ex-Premier Hariri und mit Leuten von der Hizbollah, die immer gegen parteilose Minister war.
Abdou und Othman, Ali, Basem und Abed stellen sich darauf ein, ein wenig länger auf dem Platz zu bleiben. Irgendwann muss es ja wieder wärmer und trockener werden. Auch Mina Hassan geht davon aus, weiterhin wenig Zeit in ihrem Büro zu verbringen.
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