Zwei Ethiker zur Impfpflicht«Impfgegner sollen die Konsequenzen ihres Verhaltens direkt spüren»
Eine Pflicht sei kein Zwang – und ethisch absolut angezeigt, sagen zwei Philosophieprofessoren. Der eine befürwortet eine weiche Variante, der andere würde Unwillige zur Kasse bitten.

Terminierte Operationen werden verschoben, um Intensivbetten für Corona-Patienten frei zu halten, die Intensivstationen in der Schweiz laufen voll. Massnahmen wie Maskenpflicht werden schulklassenweise eingeführt, bisweilen müssen auch ganze Klassen wegen eines Massenausbruchs zu Hause bleiben. Der Impfschutz der mRNA-Impfstoffe lässt nach, während sich die neue Virusvariante Omikron in Windeseile über den Globus ausbreitet. Und die umstrittene Forderung nach einer Impfpflicht greift auch in der schweizerischen Bevölkerung um sich, in Deutschland ist sie vom kommenden Bundeskanzler Olaf Scholz bereits auf den Weg gebracht.
Ist eine Impfpflicht nicht unethisch, freiheitsberaubend – und gar eine Gefahr fürs Solidaritätsprinzip: Werden Übergewichtige, Raucherinnen und Bewegungsmuffel auch bald haftbar gemacht im Krankheitsfall?
Knoepffler: Ein klassischer Fehlschluss! Adipöse bringen nicht das Gesundheitssystem an seine Belastungsgrenzen, sind auch nicht ansteckend. Was während der Pandemie geschah, ist eine absolute Ausnahme: viele Tote, Lockdowns, zerstörte Existenzen, geschlossene Schulen, traumatisierte Kinder. Da gehts um die Gesundheit und Freiheit der meisten. Ausserdem spielt zumindest in Deutschland die Idee der Mithaftung – sogar in gesellschaftlich irrelevanten Fällen: So müssen, Stichwort Gurtpflicht, unangeschnallte Unfallopfer einen Teil der Krankenhauskosten übernehmen, und Versicherungen haben ein Regressrecht.
Rehmann-Sutter: Ich sehe keine ethischen Gründe, Impfpflichten abzulehnen. Die anderen Menschen in der Familie, in der Gesellschaft sind auf eine hohe Impfquote angewiesen – zunehmend. Nicht nur Vulnerable sind durch Ungeimpfte gefährdet, sondern alle, weil das Virus sich ständig weiterentwickeln und übertragen kann und alles lähmt. Jeder ist mitverantwortlich, denn fast keiner lebt als Einsiedler. Für mich spricht lediglich ein pragmatischer Grund gegen ein allgemeines strafrechtlich oder bussentechnisch relevantes Impfgebot: nämlich der, dass so etwas kontraproduktiv sein könnte. Die Leute mit Vorbehalten gegen die Impfung würden sich noch mehr in die Ecke gedrängt fühlen und Schlupflöcher suchen. Vergessen wir nicht: Manche haben gleichfalls moralische Gründe für ihre Verweigerung, wenn auch aus meiner Sicht vielleicht verschrobene. Zudem darf man die vielen verschiedenen Gruppen nicht in einen Topf werfen.
«Es hätte mich überrascht, wenn die Schweiz als Pionierin einer Impfpflicht vorangeschritten wäre.»
Beruht diese Verweigerungshaltung auf dem helvetischen Charakter, wie es öfters heisst?
Knoepffler: Die viel zitierte Sache mit der alpenländischen Widerständigkeit halte ich für ein dummes Vorurteil, auch wenn besonders in Bayern, Österreich und der Schweiz eine Impfverweigerung gepflegt wird. Was aber sicher stimmt: Die Schweiz hat eine viel längere Freiheitstradition als Deutschland oder Österreich. Es hätte mich überrascht, wenn ausgerechnet die Schweiz als Pionierin einer Impfpflicht vorangeschritten wäre.
Rehmann-Sutter: Dem stimme ich zu. Es gibt ja Impfskepsis in fast allen Ländern, nicht nur in der Schweiz. Es gab sie, seit es überhaupt Impfungen gibt. Man müsste aus diesen früheren Erfahrungen, die übrigens gut dokumentiert sind, lernen, wie man heute besser miteinander kommunizieren könnte. Ein wichtiger Faktor in verschiedenen Ländern ist das fehlende Vertrauen in Medizin und Behörden. Es nützt daher nichts, wenn diese immer dasselbe nochmals sagen, einfach immer lauter. Dadurch entsteht keine Solidarität. Man müsste vielmehr versuchen, Vertrauen zu schaffen. Dazu muss man auch Ängste ernst nehmen. Man muss Dialoge führen mit Menschen, die andere Erfahrungen haben – ohne damit den rechten Parteien in die Hände zu arbeiten.
Alexandra Kedves arbeitet als Kulturredaktorin im Ressort Leben. Sie schreibt schwerpunktmässig über Theater sowie über gesellschafts- und bildungspolitische Themen. Studium der Germanistik, Anglistik und Philosophie in Konstanz, Oxford und Freiburg i Br.
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