Kopfmensch mit schnellen BeinenIm Team von Schuhhersteller On lernt er sich selbst überlisten
Seit Jonas Raess im Spitzenteam am Fuss der Rocky Mountains trainiert, nähert sich der Zürcher den Weltbesten. Jetzt wagt er das nächste Abenteuer.

Keine Erfolgsgeschichte ohne Verzicht: In St. Gallen an den Hallenmeisterschaften startet Jonas Raess an diesem Wochenende nicht. Seine langen Distanzen stehen dort nicht im Programm, auch reist er nicht an die Hallen-EM Anfang März in Istanbul. Sein Fahrplan ist exklusiver: Ende Januar Boston, vor acht Tagen New York, in ein paar Wochen San Juan bei Los Angeles. Seit der 28-jährige Zürcher Langstreckenläufer vor einem knappen Jahr im On Athletics Club aufgenommen wurde, lebt und trainiert er in mehrwöchigen Blöcken in Boulder im US-Bundesstaat Colorado. Von dort geht es mit der internationalen Gruppe an die Rennen.
Der Schweizer Laufschuhhersteller hat dieses Team 2020 am Fuss der Rocky Mountains in der Höhenlage von 1600 Metern über Meer lanciert, ihm im vergangenen Jahr ein europäisches folgen lassen, bald entsteht in Australien ein drittes. Das ehrgeizige Ziel: 2028 Olympiamedaillen gewinnen. Raess sagt: «Ich trainiere hier jeden Tag mit Läufern, die zu den Weltbesten gehören. Und weil ich ein Kopfmensch bin, muss ich jeden Tag ausblenden, dass sie so gut sind.»
Seinen Platz hat er sich in diesem gut ein Dutzend Läuferinnen und Läufer umfassenden Team im letzten Winter vor allem mit zwei Leistungen verdient: mit dem Schweizer Rekord über 3000 m (7:39,49 Minuten), als er Legende Markus Ryffel ablöste, und ein paar Tage später, als er auch über 5000 m in 13:07,95 Indoor-Rekord lief und nur ein halbe Sekunde über Ryffels Outdoor-Marke blieb, der diesem 1984 bei Olympia Silber eingebracht hatte.
«Dutzende Male habe ich mir vorgenommen, mach das und das – und dann habe ich es doch nicht gemacht.»
Als das Flugzeug am vergangenen Sonntagmorgen von New York zurück nach Colorado ging, «da war das schon ein lässiges Gefühl. Ich war müde, aber ich war unheimlich zufrieden», sagt Raess. Erstmals war ihm gelungen, «was ich mir schon Dutzende Male vorgenommen habe: Mach das und das – und dann habe ich es doch nicht gemacht.» Immer wieder hat ihm der Kopf den gleichen bösen Streich gespielt.
In New York über 3000 m war das anders. Bei den traditionsreichen Millrose Games traute er sich erstmals zu, «was ich im Training auch mache: mit meinen Kollegen mitlaufen». Er sagt das noch auf energischere Art: rausgehen, den Rücken von Joe Klecker nehmen, mitrennen. «Das war der grösste Schritt, den ich seit langem machte. Dass ich mir zutraute, ihm zu folgen.» Die Achtung rührt daher, dass der US-Amerikaner Klecker derzeit die Nummer 2 der Welt über 5000 m Indoor ist und es deshalb schon ein wenig Mut brauchte, in Tuchfühlung mit ihm zu bleiben.
Der Lohn für Raess war gross: In 7:35,24 verbesserte er seinen Rekord um massive vier Sekunden – und reihte sich damit in die erweiterte Weltspitze ein. «Ich hoffe, dass ich damit endlich den Schalter umgekippt habe», sagt er und lacht. Raess lebt einfach in Boulder, bildet mit vier Laufkollegen eine WG, «das ganze Team wohnt verstreut, die Häuser hat nicht On gemietet, sondern wir selbst», sagt er. Man koche auch einmal gemeinsam, doch bei ihm, der vegan lebe, sei das halt so eine Sache: «Es wird relativ schnell schwierig.»
Der Trainer mit prominentem Namen
Mit bald 29 Jahren ist er ein nicht mehr junger Läufer, Laufjahre aber hat er längst nicht so viele wie Gleichaltrige. Profiläufer wurde Raess erst nach dem Wirtschaftsstudium, später haben ihn Verletzungen immer wieder zurückgeworfen. Doch in den letzten Jahren mutet sein Weg an wie der sachte Aufbau von vielleicht etwas Grossem. Bevor er nach Boulder kam, liess er sich die Pläne vom englischen Trainer Steve Vernon schreiben und trainierte auch in dessen Team in Manchester (GBR), in dieser Zeit legte Raess die Grundlage, von der er jetzt profitiert.
«Jetzt trainiere ich viel intensiver, aber ich weiss inzwischen, wie locker ich die Einheiten zwischen den harten Trainings angehen muss», erzählt er. Er habe seine Position in diesem Team, das gespickt ist mit superschnellen 1500- und 3000-m-Läufern, erst suchen müssen. «Ich könnte mich bei ihnen jeden Tag kaputt laufen, wenn ich immer ihre Pace mitginge. Aber ich mache nur, was mein Körper verträgt.»
Darauf achtet natürlich auch sein Trainer. Mit Dathan Ritzenhein hat On einen prominenten Namen mit dem Aufbau des Teams betraut. Ritzenhein war einer der besten Bahn- und Marathonläufer der USA, dreifacher Olympiateilnehmer und: 2009 durchbrach er bei Weltklasse Zürich über 5000 m als erster Amerikaner die 13-Minuten-Marke (12:56,27). Der heute 40-Jährige trainierte einige Jahre unter dem mittlerweile gesperrten Coach Alberto Salazar. Ritzenhein verliess das damalige Nike Oregon Project aber 2014 wegen moralischer Bedenken, die Methoden zur Leistungssteigerung waren ihm suspekt. Im späteren Prozess gegen Salazar war er Kronzeuge und wurde vollumfänglich entlastet.
Raess kennt die Geschichte und sagt, Ritzenhein tue viel zur Sensibilisierung in diesem Bereich – Seminare und Referate organisieren, «wir sind top geschult». Seine Gedanken sind jetzt aber beim nächsten Abenteuer, denn seine letzten Wettkämpfe nennt er nur Zubringer. Zubringer zum ersten Bahnrennen über 10’000 m Anfang März in San Juan. Wird er an der WM im Sommer gar über diese Distanz starten? «Mal schauen, ob das eine Erfolgsstory wird. Ich weiss, dass es dort gegen Ende extrem schnell wird. Das habe ich jetzt trainiert.»
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