Im Gefängnis statt in der Therapie
Ein guter Gesetzesartikel, der sich in der Praxis nur schwer umsetzen lässt. Verurteilte müssen immer länger in einer stationären Massnahme bleiben, auch wegen des Sicherheitsbedürfnisses. Es droht eine Endlosschleife.

Oberrichter Christian Trenkel sprach von einem Gesetzesartikel mit «politischem, gesellschaftlichem und ethischem Zündstoff». Das war am Mittwoch im Berufungsverfahren gegen einen verurteilten Pädophilen. Es ging um die Frage, ob die Verlängerung der stationären Massnahme um drei weitere Jahre rechtens sei.
Und zwar um jene Massnahme, die vom Regionalgericht im Juni 2014 beschlossen worden war. Wegen dreier erfolgreicher Rekurse beim Bundesgericht zog sich das Verfahren in die Länge. Mittlerweile sitzt der Mann elf Jahre im Vollzug, verurteilt worden war er zu 35 Monaten. Die Strafe wurde zugunsten einer stationären Massnahme aufgeschoben (siehe Infokasten).
Probleme in der Praxis
Der entsprechende Artikel 59 des Strafgesetzbuches sorgt immer wieder für Diskussionen. Aber nicht etwa der Grundsatz des Artikels werde infrage gestellt, sagt Marianne Heer, Luzerner Oberrichterin und Strafrechtsprofessorin. Psychisch kranke Täter brauchten eine besondere Behandlung und Betreuung an geeigneten Orten. «Die Probleme stellen sich in der Praxis», fügt Heer an.
Der Gesetzesentwurf für das neue Strafgesetzbuch sah eine maximale Dauer von fünf Jahren für die stationäre Massnahme vor. Um für besonders chronifizierte Fälle eine erfolgversprechende Therapie noch weiterführen zu können, wurde die Möglichkeit einer Verlängerung ins Gesetz eingebaut.
Heute seien solche Verlängerungen aber nicht mehr eine Ausnahme, sondern die Regel, sagt Marianne Heer. An den Gerichten gehören solche Fälle fast zum Alltag. Es gebe verschiedene Faktoren, die zu einer so langen Therapiedauer führen. «Es gibt für die Betroffenen viel zu wenig Plätze in geeigneten Institutionen», erklärt Heer.
Sie seien deshalb vorerst oft eingesperrt, ohne eine Therapie. Ein trauriges Beispiel ist Igor L., der fast fünf Jahre im geschlossenen Vollzug war, ohne die angeordnete Therapie. Diese Zeit ist verloren, die Motivation der Betroffenen sinkt, der Gesundheitszustand verschlechtert sich, sagt Heer. Das habe sie selber gesehen, wenn Verurteilte nach fünf Jahren wieder vor Gericht erscheinen mussten.
Grosses Sicherheitsdenken
Ein häufiger Grund für die Verlängerung einer Massnahme ist das Sicherheitsdenken. Ein gewisses Risiko bleibt immer, menschliches Verhalten lässt sich nie sicher voraussagen. Heute ist es für Vollzugsbehörden und Gerichte schwer, in dieser Atmosphäre eines Nullrisikodenkens vernünftig zu arbeiten.
Marianne Heer findet nicht, dass bei diesen Entscheiden die Gutachter zu viel Macht hätten. Die Justiz müsse sich auf das Fachwissen abstützen können. Inzwischen gebe es viele Anwälte, die sich auf diesem Gebiet weitergebildet haben. Auch Gerichte seien besser in der Lage, die Gutachten auf ihre Qualität zu überprüfen.
Es fehlen zudem niederschwellige und ambulante Angebote, welche Entlassene in der Freiheit unterstützen, sagt die Luzerner Oberrichterin. «Diese Betreuung müsste massiv ausgebaut werden, damit die Situation entschärft würde», fordert Heer.
Ein Gericht darf eine stationäre Massnahme nur bei Aussicht auf Erfolg verlängern, wenn der Betroffene therapierfähig und auch therapiewillig ist. Als Alternative bei Aussichtslosigkeit einer Massnahme sind nur zwei Extreme möglich: der Abbruch der Massnahme mit der Freilassung oder eine Verwahrung.
«Das Gesetz ist bezüglich der Verwahrung zu Recht restriktiv», sagt Marianne Heer. Unter diesem Aspekt bleibe der Entscheid betreffend die Verlängerung einer Massnahme stets eine Gratwanderung.
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