«Ich werde an der Mahnwache teilnehmen»
Die Unterstützung für die syrische Familie zieht immer weitere Kreise. Nachdem sich nach der Bäuert auch Elternvertreter für die Familie starkgemacht haben, solidarisieren sich nun auch Politiker.

In der Gemeinde geht es vielen so, wie es der Hondricher Schulleiter Kurt Mühlethaler gegenüber dieser Zeitung ausgesprochen hat: «Den Ausschaffungsentscheid und die daraus folgende Gefährdung der Betroffenen können vielen Hondricherinnen und Hondricher aus menschlicher Sicht nicht hinnehmen.» Deshalb formierte sich Widerstand gegen die drohende Ausweisung einer gut integrierten syrischen Kleinfamilie. Eltern reichten ein Dossier mit 89 Unterschriften bei der Justizministerin Simonetta Sommaruga ein und kündigten für Dienstagabend eine Mahnwache auf dem Bundesplatz an.
«Spürbare Angst»
Seit Oktober 2016 leben Tochter B. * (12) und Sohn N. * (9) mit ihrer Mutter R. O. im Durchgangszentrum in Hondrich. Die Kinder gehen zur Schule, die drohende Ausschaffung hatte die Schule Hondrich publik gemacht. Von Beginn an sei eine grosse Verunsicherung und Angst spürbar gewesen, ist im Brief des Kollegiums zu lesen. «Mit zunehmenden Deutschkenntnissen kam immer deutlicher die starke Traumatisierung durch Gewaltausbrüche ihres Vaters ihnen selber und der Mutter gegenüber zum Vorschein.» Nur zögernd hätten die Kinder Vertrauen gefasst.
Doch sie fühlten sich in der Schule zusehends wohler. «Die grosse Bereitschaft zu konstruktiver Zusammenarbeit der Mutter trug wesentlich zu dieser positiven Entwicklung bei.» Seit dem Bekanntwerden des negativen Asylentscheids und der drohenden Ausschaffung ins nordeuropäische Ersteinreiseland «sind bei beiden Kindern äusserst beunruhigende Symptome zu beobachten», schreiben die Lehrpersonen weiter.
An der Politik ging das Ganze bisher nicht spurlos vorüber. Der Spiezer Gemeinderat tagte am Montagmorgen zum Thema der drohenden Ausschaffung und bekundete Solidarität mit der Mutter und ihren zwei Kindern: «Vertreter des Gemeinderates werden an der Mahnwache teilnehmen», sagte dazu die Gemeindepräsidentin Jolanda Brunner (SVP).
Wichtiger als ein Abkommen
Ursula Zybach, Gemeinderätin und Grossratspräsidentin (SP), doppelt nach: «Ich kenne nicht alle Details der Geschichte dieser bereits gut in Hondrich integrierten Familie», sagte sie gestern. Das Schengen-Abkommen sei ein wichtiges Element der europäischen Asylzusammenarbeit, die Kantone seien zuständig für die Umsetzung des Abkommens und würden dies unterschiedlich streng handhaben. Zybach weisst aber darauf hin, dass Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt schwere Menschenrechtsverletzungen seien. Denn: Die Rückschaffung in ein Land im Norden Europas – rechtlich gesehen zwar ein sicherer Drittstaat – bedeutet die Auslieferung an den mutmasslich gewalttätigen Ex-Mann (wir haben berichtet).
Zybach erklärt, dass am 1. April dieses Jahres die Istanbul-Konvention zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen in der Schweiz in Kraft gesetzt wurde. Diese Konvention habe zum Ziel, physische, psychische und sexuelle Gewalt gegen Frauen europaweit auf einem vergleichbaren Standard zu verhüten, zu bekämpfen und zu verfolgen.
«Eine Familie vor häuslicher Gewalt zu schützen, hat für mich einen wesentlich höheren Stellenwert, als das Schengen-Abkommen nachzuvollziehen.» Sie ergänzt: «Führen wir die humanitäre Tradition unseres Landes weiter und geben wir dieser Frau und ihren Kinder in der Schweiz weiterhin Schutz und Unterstützung. Ich werde an der Mahnwache in Bern teilnehmen.»
Ebenfalls an der Mahnwache teilnehmen wird jemand von der reformierten Kirchgemeinde Spiez, ganz im Sinne der christlichen Nächstenliebe. «Wir unterstützen dieses Anliegen und zeigen Solidarität mit der Familie», sagt dazu Pfarrer Thomas Josi.
Gewalttätiger Ehemann
Im Sommer 2016 war die Mutter mit ihren Kindern in die Schweiz eingereist, aus einem nördlichen Staat in Europa, dort hatte die Syrerin 2015 erstmals um Asyl ersucht. Doch sie flüchtete weiter in die Schweiz, weg von ihrem gewalttätigen Ehemann. R. O. ist sich sicher, dass seine Familie ihr nach dem Leben trachtet, da diese keine Scheidung akzeptiert. 2016 habe ein Cousin ihres Ex-Mannes in Syrien seine Frau, Mutter eines fünf Monate alten Babys, getötet. «Ungesühnt», wie sie betont. Im selben Jahr sollen im nordeuropäischen Land eine Frau und ihre zwei Töchter umgebracht worden sein.
In deutschen Medien gab es in jüngster Vergangenheit immer wieder Berichte von Syrerinnen, die von Familienangehörigen umgebracht wurden. In Polizeiberichten war dann immer wieder zu lesen, dass die Tat «von einem nahen Angehörigen aus kulturellen Motiven verübt worden ist». Damit ein solches Schicksal R. O. nicht ereilt, setzen sich nun Spiezerinnen und Spiezer für den Verbleib der Familie ein. Denn die Gefahr ist akut: Über die sozialen Medien und die Schwester der Mutter, die in einem Nachbarkanton lebt, hat ihr Ex-Mann sie auch schon in der Schweiz bedroht. Dieser Fall ist polizeilich dokumentiert.
Das letztinstanzliche und rechtskräftige Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Februar fiel zuungunsten der Asylsuchenden aus. Es wies deren Beschwerden gegen den Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) ab. Das SEM hatte am 20. September 2017 entschieden, nicht auf die Asylgesuche einzutreten und R. O., B. und N. wegzuweisen. Ausschaffen in einen sicheren Drittstaat. Als das gilt das nördlich gelegene EU-Land. In ihm hatte die Syrerin nach der Flucht im Sommer 2015 um Asyl ersucht. Und erhalten. Darum sei das Land unverändert für sie zuständig, befand nach dem SEM auch das Bundesverwaltungsgericht. Wie aus dessen Urteil hervorgeht, teilen die Nordländer diese Ansicht. Die letzte Chance derzeit ist ein Wiedererwägungsgesuch zum Wegweisungsvollzug ans SEM des Anwalts, das derzeit hängig ist.
Mahnwache: Waisenhausplatz, Bern, 18.30 Uhr.
* Namen der Redaktion bekannt.
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