Hymne auf den Gletscher
Sonntagsausflug nach Pontresina, wo der Gastgeber des Campings Morteratsch in die Luft geht und ein Gletscherforscher zur Violine greift.

Die Nacht war frostig, Schnee ist gefallen. Jetzt aber wölbt sich, wie ein gigantisches Zeltdach, dieser Himmel über dem Oberengadin, azurblau und praktisch wolkenlos, wenn man von den Dampfschwaden absieht, die mit jedem Atemzug entweichen. Und abgesehen vom Knarren und Ächzen, das der junge Schnee mit jedem Schritt von sich gibt, ist in der knackig kalten Winterluft kein Laut zu hören.
Peter Käch spurt vor. Auf der Rückseite seines knallroten Parkas ist in schwarzen Buchstaben der Gruss «Welcome aboard!» zu lesen. Ist unser Wanderführer etwa ein Kapitän?
«Psssst.» Käch hält inne und legt den Handschuhfinger auf die Lippen. «Hört ihr das?» Von weit her, vom Talkessel, wo der Morteratsch, Europas drittgrösster Gletscher, in der Sonne glitzert, trägt der Morgenwind eine sanfte Melodie herüber. «Das ist der Felix», grinst Käch. «Unser Glaziologe nimmt gelegentlich seine Violine mit in den Eispalast.»
Wintercamping wird immer beliebter
Der Betreiber des Campings Morteratsch, ein sportlicher Mittfünfziger, hat sich am Vorabend in breitem Berner Dialekt vorgestellt. «Dahie si au per du», machte er klar. «U ig bi dr Pesche!» Er könne Schneeschuhe besorgen, Gehhilfen für den Morgenspaziergang.
Video: Zelten bei Eis und Schnee
Auf dem Campingplatz Morteratsch gibt es auch im tiefsten Winter noch Camper. Video: Aline Bavier, Adrian Panholzer
Rund um das weitläufige Gelände laden in den Sommermonaten kleine Bergseen zum Bade und schattige Haine zum Lustwandeln ein. Jetzt aber, im tiefsten Winter, herrscht zwischen dekorativ überzuckerten Tannenbäumen und eingeschneiten Wohnmobilen eine geheimnisvolle Stille.
Camping im Winter? Mit klammen Fingern Heringe in den vereisten Boden treiben? Mit klappernden Zähnen im Schlafsack schlottern?
«Wintercamping ist voll im Trend», sagt Käch. «Es kommen vor allem Sportler: Langläufer, Schneeschuhwanderer, auch Alpin-Skifahrer und Snowboarder. Und Eiskletterer.» Weniger hartgesottene Gäste können auch in einem vorgeheizten Holzhüttli nächtigen, philosophisch Veranlagte schlafen, wie einst Diogenes, in einem Holzfass, das aus nicht viel mehr besteht als einem von kreisrunden Latten eingefassten, frisch bezogenen Doppelbett.
Früher oder später begegnen sich alle in der Sanitäranlage zwischen Réception und Restaurant, die Frühaufsteher morgens zum gemeinsamen Zähneputzen, die Langschläfer am Abend beim Pfannenschrubben. Für ihn sei dies der «schönste Parkplatz im ganzen Alpenbogen», nuschelt der Neuling aus Österreich mit Zahnpastaschaum um die Lippen. Der Morteratsch-Camping sei so naturnah, bestätigt sein Gegenüber, ein Stammgast aus Deutschland. Man fühle sich wie beim wilden Campieren, «mit dem Unterschied, dass das hier erlaubt ist und man warm duschen kann».
Bitterste Kälte lässt im Innern des Eispalasts die Füsse selbst in pelzgefütterten Schuhen taub werden. Hinter der Bernina-Bahnstation Morteratsch haben Skulpturkünstler aus Ladakh im Himalaja, unterstützt von 300 Engadiner Schulkindern, aus Drahtgeflecht ein märchenhaftes Bauwerk geformt und mit viel Wasser in der Kälte wachsen lassen.
Die letzten Töne der norwegischen Hymne sind verklungen. Der fiedelnde Wissenschaftler hat seine Violine im Geigenkasten versorgt: «Aber darum», sagt er, «geht es schon lange nicht mehr.» Felix Keller ist im Nachbardorf Samedan aufgewachsen, wo der mächtige Eisfluss im Morteratsch-Gebirge ihn schon als Kind so in seinen Bann zog, dass er das Studium der Glaziologie aufnahm und ein bekannter Gletscherforscher wurde. «Es geht darum, dass wir diesen Gletscher retten müssen.»
Rettungsplan für den schwindenden Gletscher
Zunächst retten wir uns in die warme Gaststube des Hotels Morteratsch. Keller spielt noch einmal auf, bevor er seinen Rettungsplan erläutert: «Im Sommer wird das Schmelzwasser abgefangen, wieder eingefroren und als schützende Schneedecke zurück aufs Eis des Gletschers gebracht. Im Modell haben wir das hundertmal getestet – es wird Jahre dauern und Millionen kosten. Aber es funktioniert!»
Sechs Stunden später und 800 Meter weiter oben breitet Pesche Käch hinter der Standseilbahn Muottas Muragl ein Segeltuch aus. Er sortiert dünne Seile und lüftet das «Welcome aboard»-Geheimnis seiner roten Jacke. Nein, lacht der Morteratsch-Campingwart, er sei kein Kapitän. «Ich bin Gleitschirm-pilot, und meine Campinggäste sind im Tandemflug bevorzugte Passagiere. Sie zahlen zehn Prozent weniger!» Er schnallt sich eine Frau vor die Brust, hängt den Karabinerhaken ein und rennt bergab, bis der Talwind das Tuch packt, aufbläht und in die Höhe hebt. Lautlos schwebt das Gespann über das atemberaubende Panorama der Oberengadiner Seenplatte der Abendsonne entgegen.
Die Reise wurde unterstützt von www.citypeak-campers.com; www.morteratsch-camping.ch; www.pontresina.ch
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