
Jacques Cousteau war sein erstes grosses Vorbild. In den 1960er-Jahren, als David Linden als «Beach Boy» in Santa Monica aufwuchs, liefen «ständig» Filme des Meeresforschers im Fernsehen. «Ich wollte damals wie Cousteau Meeresbiologe werden», erinnert sich Linden, «die halbe Klasse in meiner Highschool hatte diesen Berufswunsch.»
Doch es gab noch einen anderen Einfluss: Lindens Vater therapierte in seiner Praxis die Schönen und Reichen aus der Unterhaltungsindustrie, «die Sorte Menschen, die das Geld und die Zeit hatten, fünfmal die Woche mit einem Psychoanalytiker zu sprechen», wie es Linden formuliert. «Ich fand das ziemlich interessant, wenn der Vater beim Abendessen davon erzählte», erinnert sich der 57-Jährige bei unserem Treffen am Rande des Europäischen Trendtages am Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon. Er selber, so sein Plan damals, wollte aber keine Celebrities therapieren, sondern viel lieber herausfinden, was im Innern des Kopfs so abgeht, im Gehirn. «Das ist das wahre Geheimnis.»
Im College war Linden indes noch immer unentschlossen: Sollte er Meeresbiologie studieren? Oder doch Hirnforschung? Er schmiss das Studium an der University of California in Berkeley vorerst, heuerte als Taucher bei einer Schiffszubehörfirma an, und konnte so vor der Küste Südkaliforniens untersuchen, welchen Einfluss Kühlwasser eines Kernkraftwerks auf das lokale marine Ökosystem hat. Da realisierte er, dass Meeresökologie doch nicht das Richtige für ihn ist. «Das ist eine rein beobachtende Wissenschaft», sagt er. «Ich wollte aber die Dinge manipulieren, experimentell arbeiten.»
Nervenzellen können nachwachsen
David Linden wurde also Hirnforscher. Nach der Doktorarbeit an der Northwestern University und einem Forschungsaufenthalt in den Labors des Schweizer Pharmaunternehmens Hoffmann-La Roche in New Jersey erhielt er eine Berufung an die Johns-Hopkins-Universität in Baltimore. Dort forscht er heute noch, 28 Jahre später – und tut dies sehr erfolgreich, unter anderem zu den Themen Lernen und Gedächtnis und Nervenregeneration nach Verletzungen.
Auf diesem Gebiet haben er und sein Team vor zwei Jahren eine aufsehener-regende Entdeckung gemacht. Entgegen dem Dogma, dass sich Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark nicht regenerieren können, fanden die Forscher heraus, dass eine Klasse von Nervenzellen ihre kabelartigen Fortsätze (Axone) sehr wohl wiederherstellen können. Warum sie dies tun und ob die Erkenntnis für die Therapie von Hirnverletzungen oder Querschnittslähmungen von Nutzen sein wird, ist aber noch unklar.

Auch in der Gedächtnisforschung rüttelt Linden an einem Dogma. Es gebe da ein grosses Paradox, sagt er. Aus Mäuseversuchen wisse man, dass bei Weibchen die Zahl der Nervenverbindungen in einer Hirnregion namens Hippocampus, der Gedächtnis-Schnittstelle, im Laufe des Zyklus um 30 Prozent variiere. Zudem wisse man, dass diese Nervenverbindungen, die «Synapsen», die Gedächtnisinhalte speichern. Auf Menschen übertragen heisse das, räsoniert Linden, dass Frauen in jedem Zyklus ein Drittel ihres Gedächtnisses verlieren müssten, doch das Gegenteil sei der Fall: «Bei fast jedem Gedächtnistest schneiden Frauen besser ab.» Linden möchte nun herausfinden, wie man dieses Paradox erklären könnte.
Linden ist aber nicht nur ein kreativer Forschergeist, sondern auch anderweitig talentiert. Er fotografiert gerne in der Freizeit und schreibt populäre Bücher. Letzteres tut er vor allem abends. In seinem Buch «High» zum Beispiel geht es um die Sehnsucht unseres Gehirns nach guten Gefühlen; in «The Accidental Mind» beschreibt er das menschliche Gehirn als «zusammengeflicktes Durcheinander». – Wie bitte, ein Durcheinander? – Klar, das Gehirn sei schön in dem Sinne, dass es erstaunliche Dinge machen könne, sagt Linden, aber das Design sei «crazy». «Wir benutzen immer noch Strukturen, die 650 Millionen Jahre alt sind und von Verwandten der heutigen Quallen und Korallen erfunden worden sind.»
Der Tastsinn ist nicht ersetzbar
In seinem jüngsten Buch «Touch» widmet sich Linden dem Tastsinn – und tut dies mit viel Herzblut. Der Tastsinn sei für das Menschsein zentral, nicht ersetzbar wie andere Sinne, und doch kaum je der Rede wert. «Man kann blind geboren werden und sich als Mensch völlig normal entwickeln», sagt Linden, das Gleiche gelte für taub Geborene. Der Tastsinn sei aber nicht fakultativ.
«Wenn Kinder in den ersten zwei bis drei Lebensjahren zu wenig berührt, gekuschelt und gestreichelt werden, entwickelt sich ein Desaster», sagt Linden. Ihr Wachstum sei beeinträchtigt, ebenso die motorische und kognitive Entwicklung. Zudem leiden die Kinder später häufiger an Diabetes, Übergewicht und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. All das wisse man von rumänischen Kindern, die zur Zeit des Diktators Nicolae Ceausescu in den 1970er- und 1980er-Jahren in Waisenhäusern aufwuchsen – fast ganz ohne Bezugspersonen und ohne Berührungen. Die frühkindliche Periode sei absolut kritisch, sagt Linden. «Ein Defizit kann später nicht mehr gutgemacht werden.»
Auch später im Leben sind laut Linden Berührungen wichtig. «Sie sind unser sozialer Leim.» Sei das in der Familie, in der Schule, in Sportteams. «Soziale Berührungen vermitteln Wärme und Zusammengehörigkeit.» Daher ist Linden skeptisch gegenüber den weit verbreiteten Regeln, dass Lehrer und Trainer Kinder gar nicht mehr berühren dürften. «Es ist eine verpasste Gelegenheit, um eine Gemeinschaft zu bilden.» Klar, die Berührungen müssten der Situation angemessen sein, Übergriffe müssten unbedingt verhindert werden. Und es gebe auch Kinder, die gar nicht berührt werden möchten.
Der Kontext einer Berührung ist entscheidend
Der Tastsinn ist der ursprünglichste aller Sinne, sagt Linden. Er entwickelt sich schon früh im Mutterleib. Er ist aber auch der emotionalste, denn die Tastrezeptoren auf unserem Körper haben nicht nur eine direkte Verbindung zum sogenannten somatosensorischen Kortex – dieser teilt uns mit, wo und wie stark wir berührt werden –, sondern auch zu einer Hirnregion namens Insula, welche Emotionen verarbeitet. Wenn uns die Partnerin oder der Partner sanft über die Lippen streichelt, empfinden wir das ganz anders, als wenn dies der Zahnarzt tut. Mit anderen Worten: Der Kontext einer Berührung spielt eine ganz wichtige Rolle, wie wir diese empfinden. Es sei daher kein Zufall, dass man bei Emotionen von «Gefühlen» spreche, von «berührenden» Momenten, sagt Linden. «Und dies in fast allen Sprachen der Welt.»
Und: Berührungen sind für unser Wohlbefinden derart wichtig, dass manche Menschen sogar zu Tricks greifen, um Streicheleinheiten zu erhalten, erzählt Linden zum Schluss. Am Flug-hafen zum Beispiel gebe es immer wieder Reisende, die sich weigern, durch den Scanner zu laufen. «Sie wollen lieber abgetastet werden.»
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Hirnforscher mit einem Sinn für Berührungen
Neurobiologe David Linden macht sich als Autor stark für den Tastsinn. In seinem Labor erforscht er unter anderem die Regeneration von Nervenzellen – und hat da kürzlich ein Dogma gebrochen.