Hautnah und schmerzhaft
Wo ist das Zentrum der Welt? In einer Favela, einer Wüste, einem leeren Zimmer. Ab Donnerstag lädt das Norient-Musikfilmfestival zum achten Mal ein, den Planeten Erde aus anderer Perspektive zu sehen und zu hören.

Schönklang ist das nicht, was in den neun Dokumentarfilmen zu hören ist, die fürs diesjährige Norient-Musikfilmfestival aus 160 nominierten Beiträgen ausgewählt wurden. Aber klingt die Welt denn schön? Heute lauschen wir live weit entferntem Kriegsgetöse und zoomen auf dem Handy das Gesicht jenes jungen Mannes in Aleppo heran, der mit nichts als seiner Kapuze geschützt auf den Tod wartet und der Welt via Selfie Adieu sagt.
Die Welt ist klein, hautnah und schmerzhaft. Aber auch weit, vielfältig und frei. Denn Mauern können per Mausklick überwunden werden. Übers Internet verschaffen sich Musikerinnen und Musiker entlegener Weltgegenden Gehör bis in die Clubs der westlichen Freizeitgesellschaft und saugen ihrerseits auf, was hier passiert. Hier ist – aus ihrer Sicht – die entlegene Welt. Das Zentrum liegt für sie woanders. In ihrer Favela zum Beispiel.
Eintauchen in Mikrokosmen
Der Film «Favela Funk» folgt Jugendlichen zwischen Wellblechhütten hindurch auf schmutzige Plätze, wo das schmutzige Wort Trumpf ist. In einem Mix aus rüdem Rap, afrobrasilianischem Gesang und elektrisierenden Funkrhythmen wird dort Sex mit Gewalt gepaart, weil es sonst nichts gibt.
Dabei mag aus hiesiger Sicht die Begeisterung befremden, mit denen Frauen den Blitzableiter für männliche Aggression spielen. Doch bei genauerem Hinsehen wird klar: Auch ihre Art, sich zur Schau zu stellen, Aufmerksamkeit zu fordern ist aggressiv. «Wir sind alles, was wir haben», der Titel eines anderen Festivalfilms über «Los Punks» aus Los Angeles, scheint ihnen wie auf den Leib geschneidert.
Sehr scheu wirkt dagegen jene Tuareg-Frau mit akustischer Gitarre, die für das Plattenlabel Sahel Sounds unter einem dürren Baum den Wüstenblues spielt. In endlosen Schlaufen verbindet ihr Gesang die sirrenden Arabesken, die sie aus den Saiten zaubert, zu einem Muster, in das man allmählich eingewebt wird. Ähnlich klingt das bei ihren männlichen Kollegen, doch ungleich härter. Fast wie Motorsägen fräsen sich deren E-Gitarren, angeschlossen an brummende Generatoren, in die Gehörgänge. Und den einen oder anderen von ihnen hat man schon in früher gezeigten Norient-Filmen gesehen.
Die Ränder des Westens
Die Kontinuität, mit der die Festivalmacher seit Jahren Musikszenen dieser Welt abbilden, ermöglicht es dem Publikum auch, Entwicklungen mitzuverfolgen. Dabei interessieren nicht nur exotische Nischen, sondern auch Biotope an den Rändern des westlichen Mainstream.
Beeindruckend etwa der Furor, mit dem Stone Rocker seit den 1980er-Jahren eine eingefleischte Freiluftszene in der kalifornischen Wüste beschallen («Lo Sound Desert»). Und faszinierend, wie der New Yorker Geräuschesammler Nick Koenig die Seelenlosigkeit urbaner Luxus-lebensräume hörbar macht, indem er in leeren Zimmern aufnimmt. «Hot Sugars Cold World» als Gegenpol zu Selfies aus Aleppo? Vielleicht eine Möglichkeit, Zusammenhänge zu schaffen.
8. Norient-Musikfilmfestival: 12. bis 15. Januar, Reitschule Bern. Programm, Filme und Liveacts: www.norient.com
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