Hammerharte Prüfmethoden für Schweizer Autobahnbrücken
Wieso die Schweiz ihre Brücken strenger kontrolliert als alle anderen. Und welche Rolle ein Hammer dabei spielt.

Die Panzer rollen mitten in der Nacht auf den Felsenauviadukt. Die Armee probt den Ernstfall. Nicht den Krieg, sondern eine Verkehrssituation. Der Viadukt, 1116 Meter lang, 60 Meter hoch, ist das Herzstück der Berner Stadttangente. Jährlich fahren mehr als 100 Millionen Fahrzeuge über die Autobahnbrücke. Experten wollen in der Nacht vom 29. Mai 2007 herausfinden, wie sie sich unter punktueller Schwerstlast verbiegt. Und haben dazu schweres Kriegsgerät angefordert. Der Viadukt bleibt während zweier Nächte gesperrt. Die Ingenieure führen eine Reihe von Messungen durch, indem sie die 57 Tonnen schweren Leopard-Panzer an neuralgischen Stellen auf der Brücke platzieren. Das Fazit damals: alles im grünen Bereich, die Brücke hält.
Ganz so spektakulär läuft die Überprüfung von Schweizer Autobahnbrücken in der Regel nicht ab. Wenn das Bundesamt für Strassen (Astra) seine Infrastruktur auf Herz und Nieren prüft, genügt dafür oft der Hammer sowie das geschulte Auge von Rudolf Neuenschwander, 51, Projektleiter des Bernischen Tiefbauamtes. Brücken-Inspektionen gehören zu seinem Jobprofil. Jährlich kontrolliert er mit einem Mitarbeiter um die 200 Objekte im Kanton. Den Hammer hat er stets dabei – sein einfaches aber effizientes Hilfsmittel. Neuenschwander legt sich damit hin, klopft den Beton ab und lauscht. «Ich suche so nach Hohlräumen», erklärt er. Denn Hohlräume sind ein Zeichen des Verfalls.
Sonderfall Schweiz
Das Schweizer Nationalstrassennetz zählt über 4500 Brücken und Unterführungen. Sie alle fallen unter die Verantwortlichkeit des Astra. Dessen Kommunikationsabteilung ist im Angesicht der Katastrophe von Genua grösstenteils damit beschäftigt, die Zuverlässigkeit der Bauten zu betonen. So erklärte etwa Astra-Sprecher Thomas Rohrbach gegenüber dem Schweizer Fernsehen: «Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Autobahnbrücken jederzeit sicher betrieben werden können, das heisst, dass ein Brücken-Einsturz schlicht unmöglich ist.» Damit das auch wirklich so ist, lässt das Astra seine Brücken laufend überprüfen. Von Experten wie Rudolf Neuenschwander, die Beläge abklopfen, Pfeiler begutachten, die heiklen Stellen genau unter die Lupe nehmen.
Bildstrecke: Das Brückenunglück in Genua
Jede Brücke im Nationalstrassennetz wird zudem alle 5 Jahre einer vertieften Kontrolle unterzogen. Mit Hightech-Messgeräten, von Ingenieuren. Sie klären ab, wie sicher das betreffende Bauwerk steht. In welchem Zustand ist es? Braucht es zusätzliche Stützen? Gewisse Brücken stehen gar unter laufender Überwachung. Treten tatsächlich Mängel zu Tage, werden diese eingeteilt: In rasch und langfristig zu behebende. Allerspätestens bei der nächsten Sanierung des betreffenden Autobahnabschnitts sind sie Geschichte, betont das Astra. Dieser gesamte Massnahmen- und Präventionskatalog ist hierzulande gesetzlich verankert, in sogenannten SIA-Normen. Die Schweiz ist damit ein Sonderfall. Im europäischen Ausland sucht man solche Vorschriften zum Brückenerhalt laut Stefan Holzer, Professor für Bauforschung und Konstruktionsgeschichte an der ETH Zürich, vergeblich. Seit das Astra 2008 Bauherrin und Betreiberin der Nationalstrassen wurde, musste noch keine Brücke aufgrund von Mängeln gesperrt werden.
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Rost an den Rippen
«Absolute Sicherheit gibt es nicht», sagt Rudolf Neuenschwander. «Aber ich fahre in diesem Land mit gutem Gewissen über jede Autobahnbrücke – und ich stelle mich mit gutem Gewissen drunter.» Wenn er unterwegs ist auf einer seiner Inspektionen, trifft er denn auch nicht auf Brücken, die kurz vor dem Kollaps stehen. Vielmehr auf kleinere Unregelmässigkeiten. Manche von ihnen findet er auch dank seines Geologenhammers: die Hohlräume. Sie entstehen unter der Betonoberfläche, wo das Baumaterial den Stahl umschlossen halten sollte, es aber nicht länger tut.
Viele Schweizer Brücken sind Konstruktionen aus Stahl und Beton. Der Betonmantel schützt das Stahlgerippe vor der Korrosion, verhindert, dass das «Eisen» - wie Neuenschwander es nennt - rostet. So weit die Theorie. In der Realität finden die Schadstoffe ihren Weg an den Stahl irgendwann trotzdem. Weil der Beton zu dünn aufgetragen oder brüchig wurde. Neuenschwander: «Tausalz im Winter ist besonders aggressiv.» Die Salzsole arbeite sich über Jahre in den Beton ein. Und irgendwann erreicht sie den Stahl. Die Korrosion setzt ein. Der Rost bereitet vor allem älteren Schweizer Autobahnbrücken Probleme – also den meisten. Ihr Durchschnittsalter beträgt über 40 Jahre.
Gerade jene, die in den 1960-ern und 1970-ern gebaut wurden, sind weniger dick eingekleidet. Auch weil damals noch weit weniger Streusalz zum Einsatz kam und man nicht wusste, wie schädlich es für den Stahl im Beton ist. Entsprechend kürzer ist der Weg von Salz und Wasser ans Eisen. Man hat daraus gelernt, die Normen angepasst. Neuenschwander: «Heute arbeitet man das Eisen tiefer ein.»
Lego-Brücken
Rudolf Neuenschwander fährt privat regelmässig Richtung Korsika. Ihm seien dabei die vielen «Lego-Brücken» aufgefallen, die die Italiener gebaut hätten. «Da wurde viel mit vorfabrizierten Elementen gearbeitet», sagt er. Zwischen den einzelnen Teilen gebe es Fugen – viele davon seien nicht mehr im besten Zustand. «Undicht und nicht eben –man spürt das, wenn man über diese Brücken fährt. «Das sieht man teilweise deutlich.»
Über den Brückeneinsturz in Genua will er nicht spekulieren. Aber Zustände wie man sie zuweilen im südlichen Nachbarland antreffe, begegne man auf Schweizer Autobahnen bestimmt nirgends. «Wir lassen unsere Brücken nicht so weit verkommen.»
Diese Woche stehen für Rudolf Neuenschwander zwei kleinere Inspektionen an. Nichts spezielles: zwei Autobahnüberführungen in Bern, direkt beim Allmendstadion. Panzer hat die Armee dafür keine abgestellt. Aber Neuenschwander wird seinen Hammer dabei haben.
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Video – Retter suchen in den Trümmern nach Opfern
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