«Halifax wirkte wie ein Brandbeschleuniger»
Vor 10 Jahren stürzte eine MD-11 der Swissair vor Halifax ins Meer. Das Unglück berührte das ganze Land. Die damalige Swissair-Pressechefin Beatrice Tschanz erinnert sich.
Mit Beatrice Tschanz* sprach René Staubli
Frau Tschanz, die Swissair-Maschine stürzte nachts um 3.31 Uhr ins Meer. CNN berichtete ab 5.40 Uhr. Sie aber wurden als Pressechefin erst um 6.15 Uhr alarmiert. Hatte man Sie vergessen?
Nein, man hat ab 5.15 Uhr ununterbrochen versucht, mich zu erreichen, aber ich hatte im Schlafzimmer kein Telefon. Weil ich einen beinharten Schlaf habe, hörte ich das Läuten lange Zeit nicht.
Wie haben Sie auf die Nachricht vom Absturz reagiert?
Meine Kollegin sagte: «Bea, muesch sofort cho, es isch en MD-11 abe!» Zuerst dachte ich an einen Traum, dann war mir, als würde ich von einem Stromschlag getroffen. Entgegen meinen Gewohnheiten war ich innert Sekunden hellwach.
Was ist Ihnen von diesem ersten Krisentag in Erinnerung geblieben?
In Kloten traf ich auf viele Mitarbeiter, die die Nachricht vom Absturz im Radio gehört hatten und sofort ins Unternehmen gekommen waren. Viele weinten, und ich realisierte plötzlich, dass da etwas ganz Grosses, Bedeutsames passiert war. Drinnen im Emergency Room, wo der Krisenstab bereits versammelt war, herrschte eine gedrückte Stimmung, aber es wurde ruhig und präzise gearbeitet. Dieser Kontrast beeindruckte mich sehr. Man fragte mich: «Und jetzt?» Da wurde mir bewusst: «Nun musst du es bringen. Jetzt stellen sie auf dein Können als Kommunikationschefin ab.» Ich sagte: «Wir machen sofort eine erste Pressekonferenz.» An jenem Tag informierten wir jede Stunde, am Nachmittag und am Abend jede zweite.
Menschen aus der ganzen Schweiz schickten Blumen, aber auch Geld für die 100 Kinder, die beim Absturz den Vater oder die Mutter verloren hatten. Wie erklären Sie sich die breite Anteilnahme?
Es war nicht nur die Trauer um die 229 Opfer. Die Swissair galt als beste und sicherste Airline. Die Bevölkerung war stolz auf die Gesellschaft und identifizierte sich mit ihr. Dass dieses Gefühl von absoluter Zuverlässigkeit zerstört wurde, tat weh.
Konzernchef Philippe Bruggisser, ein kühler Sanierer, bekam viel Lob für sein offen gezeigtes Mitgefühl mit den Hinterbliebenen. Was haben Sie mit ihm gemacht?
Ich musste nichts mit ihm machen. Wir waren uns am Tag des Unglücks sofort einig: Es musste Offenheit herrschen, und wir mussten uns um die Angehörigen kümmern. Das waren die beiden wichtigsten Dinge. Ich sagte Philippe Bruggisser nur, «es ist ganz wichtig, dass du auch den Menschen etwas sagst». Er hatte die Menschlichkeit und den Instinkt, selber die richtigen Worte zu finden.
Am 11. September haben Sie Philippe Bruggisser zum Trauergottesdienst in die Genfer Kathedrale Saint-Pierre begleitet, wo er zu Angehörigen sprechen sollte. Wie schwierig war das für ihn – und für Sie?
Wir organisierten an jenem Tag an vier verschiedenen Orten Trauerfeiern – in New York, Paris, Zürich und Genf. Der 11. September war ein besonders bitterer Tag für Philippe Bruggisser, denn es war sein 50. Geburtstag. Er hatte keine Angst, aber er war tief bewegt. Kurz vor der Kathedrale übermannten ihn die Gefühle. «Nicht jetzt!», sagte ich zu ihm, «nun musst du stark sein.» Er hat dann eine sehr berührende Rede gehalten. Derweil sass ich hinter einer Säule und heulte in mein Taschentuch.
Seit «Halifax» sind 10 Jahre vergangen. Warum lässt uns das Unglück nicht los?
Gegenfrage: Warum erinnern wir uns nicht alle Jahre an den Zusammenbruch der Swissair? Mittlerweile ist ja auch sie «gestorben». Das Unglück wurde anständig bewältigt, viel besser jedenfalls als der Niedergang der Swissair. Vielleicht ist das ein unbewusster Grund, dass man sich lieber und lange an «Halifax» erinnert.
Tatsächlich war «Halifax» der Anfang vom Ende der Swissair. Welche Rolle spielte das Absturztrauma beim Niedergang?
Die Bewältigung des Unglücks hat das Unternehmen praktisch drei Monate lang blockiert. Zur selben Zeit schmiedete das Management wichtige Allianzen. Der Swissair-Strafprozess hat es gezeigt: Die Beteiligung an der Düsseldorfer Charterfluggruppe LTU, die sich im Nachhinein als «tödlichstes» aller Risiken entpuppte, wurde wohl zu wenig kritisch hinterfragt. Ich glaube, dass das Unglück von Halifax beim Niedergang des Swissair-Konzerns wie ein Brandbeschleuniger wirkte.
Man hatte seinerzeit den Eindruck, für Sie sei «Halifax» beruflich und persönlich zu einer Art Glücksfall geworden. Sie wurden zu einer Ikone der Krisenkommunikation. Wie sahen Sie das damals?
Ich habe das nicht realisiert und vor allem nicht reflektiert, sondern einfach meinen Job gemacht. Ich war ja 18 Jahre lang Journalistin. Es war für mich nicht allzu aufregend, in der Zeitung zu kommen. Im Nachhinein betrachtet, wäre es wohl besser gewesen, es hätte mich mehr beschäftigt. Dann hätte ich mich nämlich auch gescheiter verhalten.
Was werfen Sie sich denn vor?
Ich habe damals bei allen Anfragen immer Ja gesagt: hier ein Interview, dort einen Vortrag. Ich hätte mich früher wieder zurück ins Glied begeben müssen. Eine Kommunikationsverantwortliche hat dem Unternehmen zu dienen. Ich aber wurde plötzlich zu einer eigenen Marke. Das habe ich zu spät gemerkt – vielleicht wollte ich es auch nicht merken. Nachher habe ich das teuer bezahlt.
Inwiefern?
Es geht an die Substanz, wenn jedermann Sie anspricht, ob auf dem Markt oder im Tram. Viele Menschen wollten mir ihr Schicksal erzählen. Ich wurde zu einer Figur, der man sein Herz ausschüttete. Das hat mich zuweilen fast erdrückt. Für mich war «Halifax» kein Sechser im Lotto, im Gegenteil. Ich hatte vorher ein gutes, erfolgreiches Berufsleben und auch nachher. Das Unglück machte mich zwar bekannt. Aber in meinem Handwerk ist das eher ein Handicap.
Als Sie das Unternehmen Mitte 2001 verliessen, hiess es in einem Leserbrief: «Die Swissair verliert mit Beatrice Tschanz ihre Seele». Was haben Sie verloren?
«Halifax» hat mich mit der Erfahrung konfrontiert, dass in einem Unternehmen in einem extrem schwierigen Moment alle Menschen zusammenstanden, von der Telefonistin bis zum Manager. So etwas habe ich nie wieder erlebt.
Sind sämtliche Kontakte abgerissen?
Es gibt noch einige lose Kontakte. Beispielsweise treffe ich mich alle drei Monate mit Piloten, Mitarbeitern und ehemaligen Konzernleitungsmitgliedern zum Essen. Dieser elitäre Zirkel besteht seit fast 20 Jahren und heisst «Löli-Club». Wer da aufgenommen wird, darf stolz sein. Die Mitgliederliste ist klein und geheim.
Wie oft werden Sie heute noch auf «Halifax» angesprochen?
Täglich. Heute Morgen zum Beispiel auf dem Markt, als ich Heidelbeeren kaufte.
Ist Ihnen das lästig?
Nein, nicht mehr.
In vielen Führungsseminaren wurde die Krisenkommunikation der Swissair als beispielhaft dargestellt. Was war daran – im Rückblick – vorbildlich?
Dass wir offen, transparent, ehrlich und vor allem schnell kommuniziert haben.
Vor allem schnell?
Das Tempo ist enorm wichtig. Nur so behält man die Kommunikationsführung. Als kürzlich die Spanair-Maschine in Madrid abstürzte, wurde als Erstes eine Nachrichtensperre verhängt. Das ist das Schlimmste, was Sie tun können. Nichts animiert Medien mehr zu wilden Spekulationen als ein Nachrichtenvakuum.
Bei den jüngsten Krisen in der Schweiz – dem Fall Schmid/Nef oder dem UBS-Finanzdebakel – hatte man nicht den Eindruck, es werde nach den Regeln von «Halifax» kommuniziert.
Es ist ein grosser Unterschied, ob eine Katastrophe passiert, bei der Menschen ihr Leben verlieren, oder ob es sich um eine schleichende Krise handelt. In solchen Fällen weiss die oberste Führung oft lange nicht, was Sache ist, und wie sich das Problem entwickeln könnte. Sie hofft oft lange, zu lange, unbeschadet herauszukommen. Dann überstürzen sich die Ereignisse, und die Glaubwürdigkeit ist dahin. Das ist mir im Übrigen auch passiert, als ich die Beteiligungsstrategie der Swissair durch alle Böden verteidigte. Heute würde ich beim Management kritischer zurückfragen.
Wann konnten Sie «Halifax» loslassen?
Nach der dritten Gedenkfeier. Da dachte ich: Es kommen im Strassenverkehr jedes Jahr mehr Menschen um, ohne dass man Trauerfeiern abhält. Der Schmerz war in jenem Moment für mich bewältigt. Dass der Jahrestag für die Angehörigen seine Bedeutung behält, versteht sich von selber.
* Beatrice Tschanz (64) war Journalistin, ehe sie 1987 in die Kommunikationsbran¬che wechselte. Ihre Stationen waren Rin¬gier, Jelmoli, SAirGroup und Centerpulse. Bis letzten April war Tschanz interimis¬tische Verwaltungsratspräsidentin des Kioskunternehmens Valora. Derzeit ist sie Kandidatin für den Verwaltungsrat der Bergbahnen AG in Lenzerheide, ihrer bevorzugten Feriendestination. Sie ist verheiratet mit Prof. Herbert Kramel.
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