Halb Biel befindet sich im Modus des Zorns
In Biel ist gegen den Autobahn-Westast heftiger Protest aufgelodert. Das Komitee «Westast so nicht!» bekämpft nicht nur den für den Bau nötigen Kahlschlag. Es geht um die Frage, wie das Biel der Zukunft aussehen soll.

Passanten laufen über die violette Strichellinie am Boden, ohne sie zu beachten. Aber Simon Binggeli öffnet der Gruppe, die ihm hinter Biels Bahnhof folgt, die Augen: «Hier würde der Mittelstreifen der Westast-Autobahn verlaufen», sagt er.
Sein Kollege Sascha Weibel zeigt eine Visualisierung der kantonalen Baubehörden. Man sieht darauf den Autobahnanschluss Bienne-Centre. Wo wir jetzt stehen, wird er sich wie eine Grube öffnen: 270 Meter lang, 45 Meter breit und 18 Meter tief. «Man könnte darin glatt die Altstadt von Nidau versenken», sagt Weibel.
Rund 1000 Leute haben in den letzten Monaten in Biel die Stadtwanderung des Protestkomitees «Westast so nicht!» mitgemacht. Auf einer Tour durch das Lagerviertel an den Geleisen leiten Komiteemitglieder wie Architekt Binggeli und Filmemacher Weibel Interessierte an, sich mit eigenen Augen ein Bild davon zu machen, welche Schneisen der Westast in Biels Stadtkörper schlägt.
«Man könnte in dieser Autobahnausfahrt glatt die Altstadt von Nidau versenken.»
Geplant ist eine vierspurige Tunnelstrecke mit zwei offenen Ausfahrten. Erstellt würden die Tunnelpassagen im offenen Tagbau. 74 Häuser und 745 Bäume müssten deshalb weichen. Binggeli und Weibel können beim Referieren kühl bleiben. Denn die Emotionen stellen sich bei den Zuhörern von selber ein: «Das ist ja wahnsinnig und viel zu gross!», entfährt es einigen.
Bieler Protest erreicht Bern
Widerstand gegen Autobahnprojekte, das gab es in den 1980er-Jahren. In Biel hat er erst begonnen. Über 2000 Mitglieder zählt das Ende 2015 gegründete Komitee «Westast so nicht!» mittlerweile. Und es gibt noch weitere Widerstandszirkel. 4000 Leute demonstrierten im letzten September in Biel.
500 machten Mitte Mai unter dem Motto «Biel wird laut» mit Trillerpfeifen vor dem Lokal des Bieler Stadtparlaments Lärm. Die Gemeindepolitiker votierten dort für eine Überprüfung des Alternativprojekts, welches das «So nicht!»-Komitee im letzten November vorlegte.
Am 6. Juni überwies auch das Kantonsparlament in Bern eine Motion mit der Forderung, die beiden Varianten einem Faktencheck zu unterziehen. Der Bieler Protest ist im ganzen Kanton angekommen. Der im Mai abgetretene Regierungsrat wollte den Alternativvorschlag noch ignorieren.
Die neue Regierung muss nun auf Geheiss des Grossen Rates über die Bücher. Gestern Morgen pilgerte der neue Bau-, Verkehrs- und Energiedirektor, SVP-Regierungsrat Christoph Neuhaus, gar nach Biel, um dort einen ersten Zwischenbericht zu präsentieren.
Vergebliche Konsenssuche
Der Protest brandet in Biel spät auf, weil die dortige Autobahnumfahrung zu den letzten Lücken im Nationalstrassennetz gehört. Im letzten Oktober wurde die Ostumfahrung durch zwei Tunnel von Brügg ins Bözingenfeld eröffnet.
Bleibt der letzte Zankapfel: Wie und wo soll die Westumfahrung zwischen Seeufer und Bahnhof durchgeführt werden? Also dort, wo Biels Zukunftsquartier mit dem neuen Fachhochschulcampus und dem Switzerland Innovation Park entstehen soll.
Seit dem Netzbeschluss des Bundesparlaments von 1960 ist es beschlossene Sache, dass eine Nationalstrasse von Solothurn bis nach Yverdon gebaut werden soll. Die Linienführung im Raum Biel war von Anfang an umstritten. Alle möglichen Varianten wurden evaluiert: am nördlichen oder südlichen Seeufer, im Boden oder auf Brücken. 1999 genehmigte der Bundesrat endlich das heutige Projekt.
2004 wurde es schon wieder überarbeitet. Denn nach Unfällen in Strassentunneln wurden neue Richtlinien für die Tunnelsicherheit erlassen. Davon sei der Westast in Biel direkt betroffen, bestätigt auf Anfrage Kantonsoberingenieur Stefan Studer.
Autobahnausfahrten dürfen nun nicht mehr wie in Luzern oder Neuenburg im Tunnel abzweigen, sie müssen zwingend offen gebaut werden. Der Bieler Protest entzündet sich vor allem an den 200 Meter langen Öffnungen, in denen mitten in der Stadt zwei Ausfahrten die vierspurige Autobahn verlassen sollen.
Regionale Expertengruppen tagten, Mitwirkungen liefen, einen Konsens über das Projekt fand man bis heute nicht. Im Mai 2017 erfolgte die Planauflage. Je konkreter das Projekt wurde, desto mehr schwoll der Protest an. Im letzten November präsentierte das Komitee «So nicht!» dann ein Alternativprojekt: einen zweispurigen Tunnel, der das Bieler Westquartier ohne Autobahnanschlüsse unterqueren würde.
Er würde 1,6 statt der budgetierten 2,2 Milliarden Franken kosten, könnte unterirdisch gebohrt werden und würde die Hausabrisse ersparen. Er fasst aber weniger Durchgangsverkehr und entlastet in den Augen der Behörden Biels Seeuferviertel nicht vom Quartierverkehr.
Realisten gegen Utopisten
Zwei Haltungen zum Autoverkehr prallen in Biel aufeinander. Die Realisten in den Behörden stellen auf das prognostizierte Verkehrswachstum ab. Die Utopisten in den Protestkomitees wollen verhindern, dass grössere Strassen den in ihren Augen übermässigen Verkehr noch ankurbeln. Es geht noch um mehr als um Verkehrszahlen. In Biel tobt auch ein Kampf um städtebauliche Vorstellungen.
Die Gemeinden Biel und Nidau haben eine Begleitplanung am Laufen, die parallel zum Westast-Bau Boulevards, Büroblöcke und neue Parks schaffen will. Zwischen See und Bahn ist eine top erschlossene, aufgewertete und grosszügige Zukunftscity geplant.
Für die Westast-Gegner sind diese Pläne überdimensioniert. «Der offizielle Westast ist ein Monsterprojekt aus dem 20. Jahrhundert, das nicht ins 21. Jahrhundert passt. Es ist eine Stadtdurchfahrung und Stadtzerstörung statt eine Stadtumfahrung», sagt Simon Binggeli zu seiner Stadtwanderergruppe beim Bahnhof.
Die mehrheitlich rotgrünen Westast-Gegner sehen den Charme ihrer etwas heruntergekommenen Stadt durch die Aufwertungspläne der Behörden gefährdet. In Biel führt man die auch anderswo laufende Debatte über das menschliche Mass der Stadt.
Bieler Regierung laviert
Er erkenne zwei sich gegenüberstehende Gruppen, erklärte Stadtpräsident Erich Fehr (SP) an der Maisitzung im Bieler Stadtparlament: Die eine würde die verkehrliche, die andere die städtebauliche Wirkung des Westasts betonen.
Der Stadtpräsident und seine Regierung beziehen nicht klar Position für das Alternativprojekt, verteidigen aber auch nicht mehr vorbehaltlos das offizielle Vorhaben. Der lokale Widerstand ist zu gross, um ihn einfach zu ignorieren. 27 der 60 Mitglieder von Biels Stadtrat gehören mittlerweile dem «So nicht!»-Komitee an, darunter auch Bürgerliche.
Die Behörden von Biel und Nidau haben ihre städtebauliche Begleitplanung gestoppt und fordern einen Dialog aller Player über beide Westast-Varianten. Alle warten ab, was die gestern von Regierungsrat Neuhaus lancierte letzte Diskussionsrunde ergibt.
Sollte das Alternativprojekt auf der Strecke bleiben, müssen immer noch über 600 hängige Einsprachen erledigt werden. Der VCS und der Heimatschutz haben schon angekündigt, bis vor Bundesgericht weiterkämpfen zu wollen.
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