Glücklich wird nur, wer das Glück erkennt
Bestsellerautorin Silvia Aeschbach über ihre Gespräche mit Menschen zwischen 80 und 100 und darüber, wie man vom Glückssuchenden zum Glücksfinder wird.

High Noon im Gartenrestaurant des eleganten Golfclubs hoch über der Stadt. Die Dame, die ich an einem heissen Sommertag traf, war hier seit Jahrzehnten Mitglied. Bis vor kurzem spielte sie noch regelmässig selbst auf dem schönen Golfkurs. Nachdem sie vor wenigen Wochen ihren 100. Geburtstag feiern konnte, liess sie es nun etwas ruhiger angehen. Ich wollte von ihr unter anderem erfahren, wie man es schafft, in einem so hohen Alter immer noch glücklich zu sein. «Feiere die Feste, bis du selber fällst» lautete eines ihrer Rezepte.
Margot, so ihr Name, war einer von einem Dutzend Menschen im Alter zwischen 80 und eben 100 Jahren, die ich traf, um etwas darüber zu lernen, wie das Glück einen findet, und vor allem, was man selbst tun kann, um das Glück zu finden und es sich zu erhalten.
Nichts interessiert mich so sehr wie Menschen und ihre verschiedene Art, zu leben und zu denken. Ich liebe es, in die Welten anderer Menschen einzutauchen und mich damit auseinanderzusetzen. Als Journalistin und Buchautorin habe ich in den letzten Jahrzehnten mit Hunderten von Menschen Interviews geführt. Manche mögen oberflächlich geblieben sein, viele gingen tiefer. Aber nur selten berührten mich die Gespräche so sehr wie diejenigen für mein neues Buch «Glück ist deine Entscheidung». Und dies nicht nur, weil ich mich bei der einen oder anderen Begegnung fragte, ob dem Interviewpartner wohl noch genug Lebenszeit bleibt, damit wir uns nochmals sehen können.
Als 77-jährige Witwe nochmals Hals über Kopf verliebt
Die Menschen, die ich traf, kommen aus verschiedenen sozialen Schichten und blicken auf die unterschiedlichsten Lebensgeschichten zurück. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie nicht nur in früheren Jahren immer wieder das Glück erkannt und sehr bewusst empfunden haben, sondern dies auch im hohen Alter noch tun. Und dies bei allen durchlebten Krisen und Verlusten, die in so einem langen Leben nicht ausbleiben. Von ihren Lebensgeschichten und ihren Einstellungen, von ihren Rezepten für ein glückliches Leben können wir viel lernen.
Zum Beispiel von Suzette. Die 86-Jährige ist eine auffällige Erscheinung: schulterlange, flammend rote Haare, extravagante, bunte Kleider, wie man sie bei Frauen in diesem Alter – leider – selten sieht. «Ich finde es sehr schade, dass viele ältere Menschen keinen Mut mehr zu Farben haben. Denn diese tun gut und machen glücklich», sagte sie. «Als junge Frau», so Suzette, «war ich das schwarze Schaf in der Familie, heute bin ich stolz darauf, ein Paradiesvogel zu sein.» Dazwischen liegt eine faszinierende Lebensgeschichte mit vielen Hochs und Tiefs, deren Essenz die Lebensweisheit dieser ungewöhnlichen Frau ausmacht.
Dass man nie zu alt ist für eine neue Liebe, erfuhr ich von Irmy. Die künstlerisch begabte und nach wie vor aktive 85-Jährige – sie macht auf professionellem Niveau wunderschöne, farbenfrohe Quilts – erzählte mir bei meinem Besuch in ihrem abgelegenen Haus auf dem Land, wie sie in hohem Alter noch einmal eine grosse Liebe fand. Ihr Mann, mit dem sie 45 Jahre verheiratet war, war schon vor ein paar Jahren gestorben, als sie sich mit 77 Jahren Hals über Kopf verliebte. Eine Bekannte hatte ein Date mit einem Witwer arrangiert, von dem sie überzeugt war, dass er zu Irmy passen würde. Und sie hatte recht. Schon eine Woche nach dem Kennenlernen zog die neue Liebe samt vier Windhunden bei Irmy ein. «Wir galten als Traumpaar», erinnerte sie sich. Leider war die junge Liebe nicht für die Ewigkeit, da der Traumprinz schon nach wenigen Jahren verstarb. Trotz der Trauer liess sich Irmy nicht unterkriegen: «Die Tatsache, dass ich in reifem Alter noch einmal ein solch grosses Glück erleben durfte, hat mich schliesslich mit dem Schicksal versöhnt.»
«Ich habe die Gabe, all das Glück, das mir geschenkt wurde, höher zu gewichten als das Unglück.»
Eine alles andere als langweilige Lebensgeschichte erzählte mir Paul. Der 91-Jährige bezeichnete sich selbst als «Glückskind». Obwohl auch er im Lauf seines Lebens nicht vor Schicksalsschlägen verschont geblieben ist und keineswegs zum Beschönigen oder gar Verdrängen neigt, sagte er: «Wenn ich am Ende meines Lebens sagen kann, die schönen Tage haben die schweren Tage bei weitem überstrahlt, dann bedeutet das doch Glück.» Und fügte Zustimmung heischend an: «Oder nicht?» Der weltoffene Charmeur hat viel erlebt. Er lebte und arbeitete längere Zeit in Afrika und in den USA. «Es würde vielen Menschen guttun, einmal aus ihrem engen Umfeld auszubrechen und sich den Wind der weiten Welt um die Nase wehen zu lassen», sagte er. «Mich hat es jedenfalls glücklich gemacht, verschiedene Kulturen und neue Menschen kennen zu lernen.» Obwohl sich Paul überzeugt zeigte, dass Glück «einfach Zufall, ein Geschenk» sei, ist er ein gutes Beispiel dafür, dass man es auch zulassen und offen dafür sein muss, wenn einen das Glück findet.
Dass Glück zu zweit doppeltes Glück ist, hat nicht nur Irmy erfahren. Wobei bei Gene und Pe der Traumpaar-Status lebenslänglich dauert. «Wir beide sind unser grösstes Glück», sagten sie mir. Die beiden sind 84. Kennen gelernt haben sie sich vor 66 Jahren, seit 58 Jahren sind sie verheiratet. Und das glücklich. Die Liebesgeschichte, die hinter diesen Fakten steckt, ist zauberhaft und weckt die Hoffnung, ein ähnliches Glück erleben zu dürfen. Bei unseren Gesprächen sassen sie nahe beieinander und berührten sich immer wieder liebevoll an den Händen. Gene erzählte, nach dem ersten Kuss von Pe habe sie «nie mehr einen anderen Mann angeschaut». Und er versicherte: «Für mich gab es immer nur Gene. Sie war und ist meine grosse Liebe.»
Auch Ehrgeiz und Disziplin können glücklich machen
Die Beziehung, die Liebe und vor allem auch die Familie sind für die meisten der Menschen, die ich traf, vielleicht nicht ständig, aber doch immer wieder ein wichtiger Faktor für Glücksgefühle. So war es bei der 89-jährigen Elisabeth ebenso wie bei Heidy, meiner 90-jährigen Schwiegermutter. Und auch bei Ruth, der Mutter des Fotografen Walter M. Huber, der die Porträts der alten Menschen schuf. Leider verstarb sie, bevor wir das vereinbarte ausführliche Gespräch für das Buch führen konnten. Eine wichtige Quelle für Glück sind immer wieder auch gelebte Leidenschaften. Den 85-jährigen Max K. etwa beglückt sein Rosengarten mit weit über 100 Arten.
«Mich hat es glücklich gemacht, verschiedene Kulturen und neue Menschen kennen zu lernen.»
Dass Glück aber auch etwas mit Disziplin und Leistung zu tun haben kann, erfuhr ich von Bruno. Der distinguierte 80-jährige Gentleman war Tennissportler mit internationalen Erfolgen und als Zahnarzt nicht weniger erfolgreich. Ehrgeiz, einen starken Willen und Disziplin nannte er als gute Grundvoraussetzung für Glück. Denn daraus werden Winner-Typen, und Siegen machte Bruno glücklich, ob im Sport oder im Beruf. So begründete er seine auf den ersten Eindruck doch etwas überraschende Aussage: «Glück bedeutet für mich Leistung.» Erst im reiferen Alter erlebte Bruno allerdings, dass das Glück einem auch zufallen kann, und zwar ohne dass es mit Disziplin und Leistung erkämpft werden muss. Es war, als er mit seiner dritten Ehefrau «die wahre Liebe» fand.
Doch nicht nur wer durch Herkunft und beruflichen Erfolg wirtschaftlich gesehen auf der Sonnenseite steht, kann glücklich werden. Die 85-jährige Margrith beispielsweise ist keineswegs ein klassisches Glückskind. Sie war in einem strengen Elternhaus aufgewachsen und musste schon als Jugendliche in der Pension ihrer Mutter mitarbeiten, und als Au-pair in der Fremde machte sie eine schwere Zeit durch. Glück fand sie schliesslich in der Familie. Doch als sie 45 war, verstarb ihr Mann plötzlich an einem Herzinfarkt. «Nicht hadern mit Dingen und Ereignissen, die du nicht verändern kannst» gehört zu ihren Rezepten, sich von Schicksalsschlägen nicht runterziehen zu lassen. Und vielerlei Aktivitäten und Engagements, etwa in Vereinen, bereicherten immer ihr Leben.
«Dass ich in reifem Alter noch einmal eine grosse Liebe erleben durfte, hat mich mit dem Schicksal versöhnt.»
Die Offenheit, mit der mir Margrith und all die anderen Seniorinnen und Senioren begegnet sind, und die Ehrlichkeit, mit der sie mir Einblicke in ihr Leben gewährten, haben mich sehr berührt. Und sie haben mich auch veranlasst, immer wieder selber innezuhalten, um mein eigenes Leben zu reflektieren. Denn wie wir alle wissen, dauert es kaum einen Wimpernschlag, und man ist selber alt. Und fragt sich, wo all die Jahre geblieben sind.
Jeder ist seines Glückes Schmid – stimmt, aber . ..
Wenn ich etwas aus meinen Gesprächen gelernt habe, dann dies: Es braucht manchmal Mut, eingefahrene Denkmuster und ausgetretene Lebenswege zu verlassen, um sich selber die Chance zu geben, das Glück dort zu entdecken und zu erobern, wo man es vielleicht nie vermutet hätte.
Die Gespräche mit den alten Menschen haben mein Leben bereichert. Ihre spannenden und bewegenden Erzählungen gaben mir Einblicke in unterschiedliche Lebensgeschichten. Sie alle zeigen, dass die Wege zum Glück, das Glücksempfinden und der Umgang mit dem Glück sehr verschieden sind. Doch am Ende lassen sich aus der Summe der persönlichen Geschichten allgemeingültige Schlüsse ziehen, die ich im Buch unter zehn Punkten zusammengefasst habe. Dazu gehören insbesondere folgende drei: eigene Leidenschaften pflegen – sie geben einem auch in schweren Zeiten Lebensmut; neugierig bleiben – das Leben und die Menschen können einen immer wieder positiv überraschen; dankbar sein – Verbitterung vergiftet das Leben.
Jede und jeder kann also selbst dazu beitragen, Glück zu erfahren. Die 100-jährige Margot sagte es so: «Ich gehöre nicht zu den sensiblen Menschen, die oft am Leben leiden oder bei Schicksalsschlägen verzweifeln, denn ich habe die Gabe oder die innere Kraft, all das Glück, das mir geschenkt wurde, höher zu gewichten als das Unglück.» Leider kann die eindrucksvolle alte Dame das Erscheinen des Buches nicht mehr erleben – sie ist vor einigen Wochen gestorben.
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