Armut führte zu vielen Zwangsmassnahmen
Ein trauriger Spitzenplatz: Von den 9000 Solidaritätsgesuchen, die Opfer von Zwangsmassnahmen beim Bund eingereicht haben, betrifft fast jedes fünfte den Kanton Bern.

Der Kanton Bern nimmt in der Aufarbeitung eines dunklen Kapitels der Schweizer Geschichte, den jahrelangen Fremdplatzierungen und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, eine besondere Rolle ein. Das wurde gestern an einer Tagung der Konferenz der Schweizerischen Archivdirektorinnen und -direktoren (ADK) klar.
Am meisten Gesuche
Wie der Berner Staatsschreiber Christoph Auer im Rathaus sagte, stammen 1800 der beim Bund eingereichten Solidaritätsgesuche von Betroffenen aus dem Kanton Bern. Damit ist laut der ADK Bern derjenige Kanton mit den meisten Gesuchen, die Zahl von 1800 ist mit Blick auf die Bevölkerungszahl des Kantons Bern überproportional hoch. Der Kanton Bern wandte für die Bearbeitung der Gesuche im Staatsarchiv eine Million Franken auf und beschäftigte bis zu sechs Personen zusätzlich.
Drei Gründe
Auer vermutet, dass es drei Gründe für die «Spitzenposition» des Kantons Bern gibt: Erstens war der ländliche Kanton Bern lange besonders von Armut betroffen, und Fremdplatzierungen gingen damit einher. Zweitens waren Fremdplatzierungen Teil einer Armutspolitik, welche auch darin bestand, Bauern zu zusätzlichen Arbeitskräften zu verhelfen. Drittens zeigten die Berner Behörden wenig Lust, etwas am althergebrachten, eingespielten System zu ändern.
Die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hat für alle Schweizer Archive nicht nur viel Arbeit bedeutet. Laut der ADK hat sich die Rolle der Schweizer Archive in verschiedener Hinsicht akzentuiert und teilweise gewandelt. Die Unterstützung, welche sie den Betroffenen leisteten, hat laut dem früheren Präsidenten der Schweizer Archivdirektorenkonferenz, Beat Gnaedinger, auch zu einer positiveren Wahrnehmung der Archive geführt.
Archivare als Unterstützer
Der Staatsarchivar des Kantons Zürich sagte an der Tagung im Berner Rathaus, heute sähen viele Menschen die Archivarininen und Archivare nicht mehr als «grimmige Hüter von Akten». Heute würden diese eher als aktive Unterstützer von Personen mit Anliegen gesehen.
Gemäss einer Mitteilung der ADK leisteten die Archive bei der Aufarbeitung der Fremdplatzierungen und der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen einen grossen Beitrag. Auf diese Weise hätten die Archive den Betroffenen geholfen, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen und unter Umständen ein Gesuch um einen Beitrag aus dem Solidaritätsfonds des Bundes zu stellen. Zudem hätten die Archive Forscher dabei unterstützt, die Zwangsmassnahmen wissenschaftlich zu untersuchen.
Laut der ADK werden die Untersuchungen zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen Ende dieses Jahres zu wesentlichen Teilen abgeschlossen sein.
Langes Leiden
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen wurden in der Schweiz bis 1981 angeordnet. Zehntausende von Kindern und Jugendlichen wurden an Bauernhöfe verdingt oder in Heimen platziert. Viele wurden misshandelt und missbraucht. Menschen wurden zwangssterilisiert, für Medikamentenversuche eingesetzt oder ohne Gerichtsurteil weggesperrt, weil ihre Lebensweise nicht den Vorstellungen der Behörden entsprach.
Bis zum Ende der Eingabefrist im März 2018 gingen bei den Behörden 9000 Gesuche für Entschädigungen ein. Weitere 100 trafen verspätet ein. (sda)
SDA/sih
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