Für Lula heisst es «Palast oder Knast»
Der brasilianische Ex-Präsident bangt dem Gerichtsurteil in einem Revisionsprozess entgegen.
Was wird Luiz Inácio Lula da Silva (72) wohl machen, wenn das alles vorbei ist? Der Prozess also, der darüber entscheidet, ob er wieder Präsident von Brasilien werden kann oder ob er als erster Ex-Präsident dieses Landes ins Gefängnis muss. Palast oder Knast. Diesen Mittwoch soll die Entscheidung fallen, so hat es das Berufungsgericht in Porto Alegre angekündigt. Die Zeitung «O Globo» stimmt ihre Leser auf den «D-Day» ein. Lula aber tut so, als könne alles ganz normal weitergehen. Am Wochenende will er nach Äthiopien fliegen, um an einer Veranstaltung zum Thema «Hunger in Afrika» teilzunehmen.
Nahezu alle Experten prophezeien, dass in Porto Alegre das erstinstanzliche Urteil bestätigt wird: neuneinhalb Jahre Haft wegen Korruption. Unwahrscheinlich ist aber, dass Lula am Mittwoch sofort in Handschellen abgeführt wird. Seinem Afrika-Trip steht wohl nichts im Wege. Und da fragt sich manch einer: Kommt er überhaupt wieder zurück, falls es bei der Haftstrafe bleibt? Er wäre ja nicht der erste Politiker Lateinamerikas, der vor der Strafverfolgung flieht. Darauf gibt es zwei Antworten. Erstens ist Lula nicht irgendwer, sondern der vielleicht bekannteste Brasilianer, der sein Geld nicht mit Fussball verdient. Er kann sich nicht einfach so verstecken. Zweitens wäre es nicht seine Art. Lula hat angekündigt, dass sein Präsidentschaftswahlkampf weitergeht, egal, was die Richter am Mittwoch entscheiden.
«Sie müssen viele Leute töten»
Was er sagen wird, wenn sie ihn verurteilen, steht im Grunde auch schon fest: dass er unschuldig ist, dass es keine Beweise gegen ihn gibt, dass es ein politischer Prozess war, um seine Rückkehr ins höchste Staatsamt zu verhindern. In allen Umfragen liegt er mit grossem Vorsprung vorne.
Lula ist immer noch die Galionsfigur der Linken in Brasilien und Lateinamerika, der Held der Armen, der Mann des Volkes. Daran hat auch dieser Prozess nichts geändert, im Gegenteil. Seine Rolle als Opfer einer Hetzjagd der konservativen Eliten spielt er meisterlich. Zehntausende Lula-Fans sind gerade nach Porto Alegre gepilgert. Sie errichteten Mahnwachen vor dem Gerichtsgebäude. Die Behörden der südbrasilianischen Stadt beantragten die Unterstützung von Bundestruppen. Es muss mit allem gerechnet werden, nicht nur wegen solcher Ankündigungen: «Wenn sie Lula festnehmen wollen, müssen sie zuerst viele andere Leute festnehmen, und ich würde sogar sagen, sie müssen Leute töten, viele Leute töten.» Dieser Satz stammt nicht aus einem Forum des Black Blocks, sondern von Gleisi Hoffmann, der Vorsitzenden von Lulas Arbeiterpartei PT.
Eben weil die Situation so angespannt ist, um des sozialen Friedens willen, wird Lula wohl auch im Falle einer Verurteilung vorerst auf freiem Fuss bleiben. So lange, bis alle formalen Einspruchsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Das kann sich – die brasilianische Bürokratie lässt grüssen – eine Weile hinziehen. Unter Umständen sogar bis zum Wahltermin am 7. Oktober.
Die Ausgangslage im Wahljahr der grössten Demokratie Südamerikas könnte kaum bizarrer sein. Mehr als ein Drittel der Brasilianer würde nach Lage der Dinge für jenen Kandidaten stimmen, den die Staatsanwälte der Taskforce «Operacão Lava Jato» (Autowäsche) als «Mastermind» des grössten brasilianischen Korruptionsschemas aller Zeiten bezeichnet haben. Das Ausmass dieses Skandals rund um den halbstaatlichen Erdölriesen Petrobras ist aber auch Lulas Trumpf. Denn die Anführer nahezu aller Parteien sind betroffen. Der aktuelle Staatspräsident Michel Temer konnte nur deshalb noch nicht verurteilt werden, weil ihn die Immunität seines Amtes schützt. Die mutmasslich Korrupten sind im Feld der Wahlkämpfer nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Falls es einen unbelasteten Heilsbringer geben sollte, hat er sich noch nicht gemeldet.
Schwammige Vorwürfe
Der Fall Lula sticht vor allem wegen seiner politischen Brisanz heraus. Im aktuellen Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten (2003 bis 2010) geht es um verhältnismässig schwammige Vorwürfe. Der Lava-Jato-Richter Sérgio Moro, der Politiker und Unternehmer fliessbandartig verurteilt, sah es in erster Instanz als erwiesen an, dass Lula sein Amt missbrauchte, um den Baukonzern OAS zu bevorteilen.
Moros Beweisführung dreht sich um ein Apartment im Strandort Guarujá, das von OAS für Lula aufwendig renoviert worden sei. Im Gegenzug soll der frühere Staatschef dem Unternehmen lukrative Aufträge von Petrobras verschafft haben. Lula bestreitet, die Wohnung jemals besessen zu haben. Und Moro konnte bislang kein Dokument präsentieren, das dessen Eigentümerschaft eindeutig belegt. «Es gibt keinen direkten Beweis», sagt der Rechtsgelehrte Carlos Eduardo Scheid von der Universität Rio dos Sinos. Die Anklage sei ein Diskurs der Mutmassungen. Trotzdem erwartet auch Scheid, dass das Urteil in wesentlichen Teilen bestehen bleibt. Das Gericht in Porto Alegre habe in nahezu allen bisherigen Fällen im Einklang mit Moro geurteilt.
Sollte Lula überraschend freigesprochen werden, dann stünde seinem politischen Comeback wenig im Wege. Zumindest sein Einzug in die Stichwahl gälte dann als sicher, weil es im linken Spektrum niemand mit ihm aufnehmen kann. Sein härtester Rivale ist derzeit der rechtsextreme Jair Bolsonaro, dessen Aufstieg aber vor allem auf einer Hasskampagne gegen «den Müll namens Lula» basiert. Falls Lula mit der Bestätigung des Urteils sein passives Wahlrecht verlieren sollte, müsste sich auch Bolsonaro komplett neu erfinden. Insofern ist der Begriff vom Tag der Entscheidung gar nicht so falsch. Brasilien stünde keine neun Monate vor der Wahl ohne einen halbwegs mehrheitsfähigen Präsidentschaftskandidaten da. Lula aber würde dann garantiert als politisch Verfolgter durchs Land touren – so lange, bis die Handschellen klicken.
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