Freipass für Schnüffler? Die «Arena» im Faktencheck
Ist es gerechtfertigt, dass Detektive im Auftrag von Sozialversicherungen Bezüger ausspionieren? 7 Aussagen aus der SRF-«Arena» im Check.

Am 25. November entscheiden die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger darüber, ob die Sozialversicherungen – wie die IV oder die Unfallversicherungen – künftig wieder Detektive einsetzen dürfen. Nach einem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte braucht es dafür eine neue rechtliche Grundlage. Im Parlament wurde das geforderte Gesetz rasch verabschiedet. Doch vier Privatpersonen ergriffen gegen den Überwachungsartikel das Referendum.
Für die Befürworter setzt das Gesetz der Überwachung die notwendigen Grenzen und schützt die Rechte der Betroffenen. Das Gesetz sei so zu verstehen, dass ein Detektiv einen Garten oder Balkon bloss von einem «allgemein zugänglichen Ort» aus beobachten dürfe. Die Innenräume eines Hauses dagegen dürften für die Bekämpfung des Missbrauchs nicht observiert werden. Zudem werde man informiert, wenn man überwacht worden sei; so könne man sich vor Gericht wehren.
Auch das Referendumskomitee will Versicherungsmissbrauch bekämpfen. Doch gehen ihm die neuen Regeln zu weit. Die Versicherungen könnten praktisch grenzenlos Überwachungen durchführen. Der «Schlüsselloch-Paragraf» erlaube neu die Überwachung von frei einsehbaren Privaträumen – etwa dann, wenn die Detektive durch ein Fenster ins Wohn- oder Schlafzimmer filmten. Zudem kritisieren die Gegner, dass kein Richter über den Eingriff in die Privatsphäre entscheidet.
In der «Arena» vom 26. Oktober diskutierten:
Befürworter:
Alain Berset, Sozialminister CVP-Nationalrätin Ruth Humbel (AG) SVP-Nationalrat Heinz Brand (GR) Monika Dudle-Ammann, Präsidentin IV-Stellen-Konferenz
Gegner:
Dimitri Rougy, Komitee «Versicherungsspione Nein» SP-Nationalrätin Silvia Schenker (BS)
Alain Berset, Sozialminister, sagt:
«Mit dem neuen Gesetz wird präzise gesagt, was erlaubt ist. Im Schlafzimmer und in der Küche ist die Observation nicht erlaubt.»
Der Check: Es ist der schwierigste Streitfall überhaupt: Die Frage, wo Versicherungsdetektive mit dem neuen Gesetz Verdächtige beobachten dürften, hat einen erbitterten Disput ausgelöst. Das Gesetz legt fest, dass Personen überwacht werden dürfen, wenn sie sich an einem allgemein zugänglichen Ort befinden oder an einem Ort, der von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar ist. Eine weitere Einschränkung sieht das Gesetz nicht vor.
Daraus schliessen die Gegner, dass Detektive zum Beispiel in die Stube oder sogar ins Schlafzimmer filmen dürfen, wenn dies von der Strasse aus möglich ist. Die Juristen des Bundes hingegen argumentieren, auch ohne Einschränkungen in diesem Gesetz sei die Privatsphäre ausreichend geschützt, insbesondere dank Bestimmungen im Strafgesetzbuch und der Rechtsprechung des Bundesgerichts. Damit sei sichergestellt, dass Detektive nicht in das Innere eines Hauses filmen dürfen.
Der Bund zitiert ein Bundesgerichtsurteil, nach dem die geschützte Privatsphäre «alle Vorgänge in geschlossenen, gegen den Einblick Aussenstehender abgeschirmten Räumen und Örtlichkeiten, wie Vorgänge in einem Haus, in einer Wohnung oder in einem abgeschlossenen, privaten Garten» umfasst. Somit sind Observationen laut dem Bund höchstens in einem Garten oder auf einem Balkon möglich, wenn diese von aussen frei einsehbar sind. Dies war auch der klare Wille des Parlaments, was aus zahlreichen Voten in den Debatten hervorgeht (zum Beispiel hier). Diese Aussagen spielen ebenfalls eine Rolle, wenn die Gerichte dereinst entscheiden müssen, ob ein Detektiv zu weit gegangen ist.
Die Gegner monieren jedoch, das Parlament hätte diese Einschränkungen direkt im Gesetz verankern müssen. Die künftige Rechtsprechung zu dieser Frage sei nicht absehbar. Weil der Bund die Vorlage im offiziellen Abstimmungsbüchlein aus Sicht der Gegner krass verharmlost, haben diese eine Beschwerde eingereicht.
Fazit: Das Gesetz selber sagt nicht präzise, wo überwacht werden darf. Rechtsprofessoren äussern erhebliche Zweifel. Gleichzeitig ist der Wille der Parlamentsmehrheit eindeutig und mehrfach dokumentiert: Es soll keine Observationen im Schlafzimmer geben.
Dimitri Rougy, Komitee «Versicherungsspione Nein», sagt:
«Die Versicherungsdetektive dürfen mit schärferen Mitteln als die Polizei überwachen.»
Der Check: Sowohl bei den Sozialversicherungen als auch bei der Polizei wird auf das Hilfsmittel der Observation zurückgegriffen. Dies mit unterschiedlichem Ziel: So versuchen die Versicherer den Anspruch auf Versicherungsleistungen abzuklären, während die Polizei damit Straftatbestände verfolgt.
Im Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus dürfen die Polizei, die Staatsanwaltschaft und der Nachrichtendienst gemäss Strafprozessordnung (Art. 282 Abs. 1 StPO) Observationen durchführen lassen. Dabei sind einfache Bild- und Tonaufnahmen an allgemein zugänglichen Orten möglich. Bei frei einsehbaren Orten wie Balkonen oder Gärten ist die Lage verzwickt. Laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen darf die Polizei solche Orte ebenfalls observieren. Laut Juristen ist das jedoch durch die Strafprozessordnung nicht gedeckt. Rechtsprofessoren kommen in einem Gutachten zum Schluss, es sei «der Staatsanwaltschaft (...) nicht erlaubt, die Polizei mit einer Observation an ‹nicht allgemein zugänglichen Orten› zu beauftragen».*
Ein Einverständnis eines Gerichts ist für die Polizei nicht erforderlich, sofern die Observation nicht länger als einen Monat dauert. Dasselbe gilt für die Sozialversicherungen, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen – eine solche Observation soll allerdings an maximal 30 Tagen innerhalb von sechs Monaten stattfinden dürfen.
Wollen die Versicherungen auch GPS-Tracker einsetzen, um die Verdächtigen zu orten, brauchen sie die Genehmigung durch einen Richter. In diesem Punkt haben die Sozialversicherungen tatsächlich mehr Möglichkeiten, da die Polizei solche Tracker erst bei schweren Delikten und dringendem Tatverdacht (und ebenfalls nur mit richterlicher Genehmigung) einsetzen darf.
Trotzdem stehen der Strafverfolgungsbehörde und dem Nachrichtendienst bei schweren Delikten im Kampf gegen Verbrechen und Terrorismus insgesamt weit mehr Mittel zur Verfügung als den Versicherungen für eine Observierung. Dafür benötigen sie eine richterliche Genehmigung und teilweise die Bewilligung des Chefs des Verteidigungsdepartements, Guy Parmelin. Ist dies gegeben, dürfen die Behörden auf technische Geräte zurückgreifen, die die Wahrnehmungsfähigkeit wesentlich verstärken. Dazu gehören etwa Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräte und Richtmikrofone. Zudem ist es ihnen unter gegebenen Umständen erlaubt, den Post- und Fernmeldeverkehr zu überwachen und in Computersysteme einzudringen. Auch eine Überwachung der Wohn- und Schlafzimmer kann erlaubt werden. Derartige Mittel dürfen von den Sozialversicherungen nicht genutzt werden.
Fazit: Es trifft zwar zu, dass Sozialdetektive Personen in Fällen überwachen dürfen, in denen dies der Polizei nicht erlaubt wäre, weil der Verdacht zu wenig konkret ist oder die Tat zu wenig schwer wiegt. Insgesamt aber ist die Aussage, dass sie schärfe Mittel hätten, nicht haltbar.
*In der usprünglichen Version dieses Artikels hiess es: «Dabei sind einfache Bild- und Tonaufnahmen an allgemein zugänglichen Orten möglich, aber auch an frei einsehbaren Orten wie einem Balkon oder Garten.» Das ist der Standpunkt des Bundesamts für Sozialversicherungen. Rechtsexperten sehen Observationen durch die Polizei von Balkonen oder Gärten durch die Strafprozessordnung nicht gedeckt.
Monika Dudle-Ammann, Präsidentin IV-Stellen-Konferenz, sagt:
«Von rund 77'000 Fällen pro Jahr sind es nur etwa 240 Fälle, die observiert werden.»
Der Check: Observationen wurden durch Entscheide des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Unfallversicherung) 2016 und des Bundesgerichts (IV) 2017 gestoppt. Davor waren seit 2009 Detektive für solche im Einsatz. Dies jedoch eher selten, wie die Zahlen des Bundes zeigen. Die IV hatte bis 2016 insgesamt rund 16'000 Verdachtsfälle geklärt, in 1700 dieser Fälle mittels Observation (10,1 Prozent).
Das letzte Jahr, in dem ganzjährlich observiert werden konnte, war 2016. Damals hatte die IV in 1950 Fällen Ermittlungen wegen Verdachts auf Versicherungsmissbrauch abgeschlossen: In 650 Fällen hatten die Ermittlungen eine Aufhebung oder eine Kürzung der Rente zur Folge, in 270 Fällen kam es zu Observationen, davon waren 180 erfolgreich.
Im Jahr 2016 hat die IV durch Observationen 4 Millionen Franken gespart – dies bei Kosten von 1,3 Millionen. Daraus berechnete die IV eine Gesamteinsparung durch Observation (indem die Einsparungen bis zum Rentenalter hochgerechnet wurden), die sich auf rund 60 Millionen Franken beläuft.
Die Suva hat von 2009 bis 2016 3,6 Millionen Unfälle bearbeitet. Dabei hat sie 3300 Verdachtsfälle geprüft und in 111 Fällen eine Observation veranlasst.
Fazit: Der Anteil der Versicherten, die observiert werden, ist gering.
Dimitri Rougy, Komitee «Versicherungsspione Nein», sagt:
«Die Versicherungen können ihre Daten untereinander verbreiten.»
Der Check: Dimitri Rougy bezieht sich in seiner Aussage auf Absatz 6 des neuen Bundesgesetzes. Dort steht in einer Kann-Formulierung, dass Sozialversicherungen Material von Observationen untereinander austauschen dürfen. Zudem dürfen sie auch Überwachungsmaterial verwenden, das von privaten Versicherungen erstellt worden ist. Aus Sicht der Gegner ist dies problematisch: Durch diesen freien Datenaustausch werde das Recht auf Privatsphäre weiter eingeschränkt und der Datenschutz verschlechtert.
Unter Absatz 8 steht im Gegenzug, dass die Versicherung jene Personen, die sie observiert hat, nachträglich immer über die durchgeführte Observierung informieren muss – auch dann, wenn der Verdacht sich nicht erhärtet hat. Die Versicherung muss dabei alles Überwachungsmaterial offenlegen und vernichten, ausser, der Überwachte «beantragt ausdrücklich», dass das Observationsmaterial in den Akten verbleibt.
Fazit: Zwar definiert das Gesetz die Rechte von überwachten Versicherten klar, dennoch müssten sie damit leben, dass die Sozialversicherungen die gesammelten Information über sie austauschen.
Heinz Brand, SVP-Nationalrat, sagt:
«Die Krankenversicherer sind von diesem Gesetz nicht betroffen.»
Der Check: Heinz Brand wehrte sich mit dieser Aussage gegen den Vorwurf, als Präsident des Krankenkassenverbands Santésuisse sei er Interessenvertreter. Die neuen Bestimmungen zu den Observationen finden sich im Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG). Dieses ist nicht nur für die IV und die Unfallversicherungen relevant, in denen am meisten Observationen stattfinden, sondern auch für weitere Sozialversicherungen wie AHV, Ergänzungsleistungen (EL), Arbeitslosen- sowie Mutterschaftsversicherung – und eben auch für das Krankenversicherungsgesetz. Konkret sind es die Grundversicherung sowie die gesetzliche Taggeldversicherung, die in den Geltungsbereich der Vorlage fallen. Im Bereich der privaten Zusatzversicherungen hingegen, welche die Krankenkassen ebenfalls anbieten, greift das Gesetz nicht.
Was bedeutet das nun konkret?
Laut den Angaben des Bundes ist es mit dem neuen Gesetz grundsätzlich möglich, dass Krankenkassen «mit verdeckten Ermittlungen kontrollieren, ob jemand wirklich krank ist oder sich nur vor der Arbeit drückt». Allerdings geben auch Gegner der Vorlage zu, dass Observationen in der Grundversicherung kaum denkbar sind, zumal hier keine Renten bezahlt werden, sondern primär Arzt- oder Spitalbehandlungen sowie Medikamente. Relevant ist die Vorlage hingegen für Krankenversicherer, die auch die obligatorische Unfallversicherung anbieten, sowie bei den Taggeldversicherungen, bei denen gemäss dem Bund jedoch die Privatversicherungen den grössten Teil ausmachen. Und diese fallen wiederum nicht unter das Gesetz.
Fazit: Aufgrund der gesetzlichen Verankerung gelten die neuen Bestimmungen auch für die Krankenkassen, dürften für diese aber weit weniger wichtig sein als für IV und Suva.
Silvia Schenker, SP-Nationalrätin, sagt:
«In der Kommission war zuerst eine Mehrheit dafür, dass alle Observationen von einem Richter bewilligt werden müssen.»
Der Check: Die Frage war von Beginn weg heftig umstritten und prägt nun auch den Abstimmungskampf: Wer entscheidet, wann jemand observiert wird? Die Sozialversicherungen drängten darauf, dass sie diesen Entscheid wie früher in Eigenregie fällen können. Alles andere sei zu kompliziert und dauere in der Praxis zu lang. Rechtsprofessoren, die Linke und skeptische Bürgerliche hingegen verlangten, dass die Versicherungen vorher jeweils die Genehmigung eines Gerichts einholen müssen, da es sich bei einer Überwachung stets um einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Privatsphäre handle.
Im Gesetz, das nun an die Urne kommt, gilt ein «Richtervorbehalt» nur dann, wenn die Versicherung eine Standortüberwachung durchführen lassen will, zum Beispiel mit einem GPS-Tracker. Wenn sie hingegen eine herkömmliche Observation mit Bild- und Tonaufnahmen plant, kann sie diese selber einleiten, ohne ein Gericht beizuziehen. Die Kompetenz dafür liegt gemäss Gesetz bei einer «Person mit Direktionsfunktion» der jeweiligen Versicherung.
Bei der ersten Diskussion in der Sozialkommission des Nationalrats war das anders vorgesehen: Das – bürgerlich dominierte – Gremium entschied im Januar, dass sämtliche Überwachungen von einem Gericht genehmigt werden müssen (hier ist die Mitteilung dazu). Einen Monat später – nach einer Intervention der Versicherungen – kam die Kommission aber noch einmal darauf zurück und stiess den Entscheid wieder um (hier mitgeteilt). Dabei blieb es dann auch.
Fazit: Die Aussage von Silvia Schenker, dass die Nationalratskommission den Versicherungen zuerst wesentlich weniger Spielraum lassen wollte, ist richtig.
Bonus:
Ruth Humbel, CVP-Nationalrätin, sagt:
«Darf ich etwas für den Faktencheck sagen? Ich habe meine Meinung nie gewechselt!»
Der Check: Wenn Ruth Humbel unseren Faktencheck schon von sich aus erwähnt, wollen wir uns nicht lumpen lassen. Nun denn: Es stimmt zwar, dass die zuständige Kommission des Nationalrats, deren Mitglied Humbel ist, im Verlauf der Beratungen in einer wesentlichen Frage ihre Meinung geändert hat (siehe oben). Tatsächlich gibt es aber keine Hinweise darauf, dass Humbel selber eine Kehrtwende vollzogen hat. Dem Vernehmen nach waren es einzelne FDP-Vertreter, die es sich anders überlegt haben. Da Humbel von Beginn weg für eine «weiche» Version eintrat, war die Intervention der Versicherungslobby bei ihr unnötig. Was wiederum auch kein Wunder ist, fungiert Humbel doch als Verwaltungsrätin der Concordia Kranken- und Unfallversicherung.
Fazit: Keine Einwände.
Alle bisherigen Faktenchecks finden Sie in unserer Collection.
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