«Fraglich, inwieweit die beiden Gutachten noch vergleichbar sind»
Psycho oder zurechnungsfähiger Terrorist? Das zweite Breivik-Gutachten widerspricht dem ersten. Redaktion Tamedia-Korrespondent Bruno Kaufmann erklärt die Ausgangslage im Prozess gegen den Massenmörder.

Neue Gutachter, neue Diagnose. Statt zum Befund «paranoide Schizophrenie», kommen die Psychiater Terje Toerrissen und Agnar Aspaas zum Schluss, der Massenmörder Anders Behring Breivik sei während der Anschläge nicht psychotisch gewesen, zumindest während «eines grossen Teils der Zeit» nicht. Und er sei auch zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht psychotisch gewesen.
Die neuen Psychiater attestierten dem 33-jährigen Rechtsradikalen laut Dagbladet.no «eine schwere psychische Störung mit deutlich eingeschränkter Fähigkeit zur realistischen Einschätzung seiner Beziehung mit der Aussenwelt». Zum Zeitpunkt der beanstandeten Handlungen habe er gar «eine starke Störung des Bewusstseins» aufgewiesen. Aber: Er war «nicht psychotisch, bewusstlos oder geistig zurückgeblieben», befanden die Zweitgutachter.
Erleichterung und Skepsis in Norwegen
Im November 2011 kamen die Psychiater Torgeir Husby und Synne Sörheim noch zum Schluss, Anders Behring Breivik leide unter «paranoider Schizophrenie» und sei nicht zurechnungsfähig gewesen, als er am 22. Juli vergangenen Jahres im Osloer Regierungsviertel eine Autobombe hochgehen liess und danach auf der Insel Utöya unter Jugendlichen ein Massaker veranstaltete.
In Norwegen überwiegt die Erleichterung über die Neueinschätzung, sagt Redaktion Tamedia-Korrespondent Bruno Kaufmann. Denn damit wird das grösste Verbrechen des Landes seit Menschengedenken wieder zu einem Fall für das Strafrecht und nicht wie zuvor in den psychiatrisch-medizinischen Bereich abgeschoben. Gleichzeitig frage man sich aber, wie aus eben dieser Profession zwei so unterschiedliche Einschätzungen kommen können.
Begründung folgt später
Einer der beiden für das neue Gutachten verantwortlichen Psychiater Terje Törrissen sagte, sie hätten «genauso viel, wenn nicht noch mehr Material» für ihre Einschätzung zur Verfügung gehabt wie ihre mit der Erstellung des ersten Gutachtens beauftragten Kollegen. Sie werteten elf Interviews mit dem Angeklagten, Einschätzungen einer dreiwöchigen ständigen Beobachtung sowie die Protokolle der Polizeiverhöre aus. Und sie stellten dabei auch ein «hohes Rückfallrisiko» fest.
Der vollständige Bericht ist vertraulich. Die Psychiater lehnten es ab, zu erklären, warum sie zu einem anderen Ergebnis gekommen sind als ihre Kollegen im ersten Gutachten. Sie würden ihre Begründung abgeben, wenn sie ihre Aussage vor Gericht machten, erklärten sie.
Fragliche Vergleichbarkeit der Gutachten
Es gibt vor allem zwei Unterschiede zum Gutachten Nummer eins. Erstens die dreiwöchige Beobachtung rund um die Uhr, für die im Hochsicherheitsgefängnis von Ila bei Oslo eigens ein Raum gebaut wurde. Die Erstgutachter konnten noch nicht auf diese Studie zurückgreifen, die erst vor rund zwei Wochen abgeschlossen wurde.
Zweitens hat sich Breivik vermutlich anders verhalten. Er schätzt sich selber als zurechnungsfähig ein und setzt sich auch vehement dafür ein, nicht als Psychiatriefall, sondern als «Ritter» und politischer Aktivist mit einer ernsthaften Botschaft wahrgenommen zu werden. Er zeigte sich nach Angaben seines Anwalts denn auch «zufrieden» mit dem neuen Gutachten. Nach dem ersten, für Breivik beleidigenden Befund, müsse man davon ausgehen, dass er für das zweite Gutachten besser vorbereitet war, sagt Bruno Kaufmann. «Es ist damit fraglich, inwieweit die beiden Gutachten noch vergleichbar sind», meint der Prozessbeobachter.
Drittes Gutachten vor Prozessende
Die norwegische Staatsanwaltschaft wollte sich am Dienstag nicht zu ihren möglichen Forderungen äussern. Sollten die Bedingungen für eine Haftstrafe sprechen, werde diese gefordert und wenn nicht, werde die Anklage für die Einweisung in eine geschlossene Anstalt plädieren, erklärten die mit dem Fall beauftragten Staatsanwälte. Die endgültige Position der Staatsanwaltschaft hänge von den im Prozess vorgelegten Beweisen und den Aussagen des Angeklagten ab.
Zudem wird bis kurz vor Ende des Prozesses, der rund 10 Wochen dauern soll, ein drittes psychiatrisches Gutachten vorliegen. Denn Anders Behring Breivik steht seit der intensiven Beobachtung im Spezialraum und auch während der Zeit des Prozesses weiter unter Beobachtung. Ein gemischtes Team aus Vertretern der ersten und der zweiten Gutachter nimmt ihn unter die Lupe. Er befindet sich zurzeit wieder in einer normalen Zelle im Gefängnis von Ila.
Breivik will Extremisten als Zeugen
Während des Prozesses sollen rund 100 Personen angehört werden, 40 davon will Breiviks Verteidigung aufbieten. Er bemüht sich laut Kaufmann auch darum, Extremisten – christliche und muslimische – in den Zeugenstand zu rufen, um seine These eines Glaubenskriegs zu untermauern. Breivik hatte bereits bei seinem ersten Gerichtstermin nach seiner Verhaftung in Uniform auftreten und eine Erklärung verlesen wollen. Die Richter hatten das nicht zugelassen.
Es wird sich schon zu Beginn des Prozesses am nächsten Montag zeigen, wie viel Freiraum die Richter dem Attentäter bei seinem Prozess einräumen wollen. Denn die ersten fünf Tage sind für die Zeugen und die Argumente der Verteidigung vorgesehen.
Heikle politische Fragen umgangen
Sicher ist für Skandinavien-Korrespondent Bruno Kaufmann, dass der Prozess in Norwegen und darüber hinaus hohe Wellen werfen wird. Das Trauma der Anschläge, die 77 Tote und 151 Verletzte gefordert hatten, sei noch nicht annähernd bewältigt.
Und den politisch heiklen Fragen, die der Islamhasser aufgeworfen habe, sei man bislang aus dem Weg gegangen. Auch am Prozess werden keine Politiker teilnehmen –, obschon Breiviks erster Anschlag Regierungsvertretern galt. Das Büro von Ministerpräsident Jens Stoltenberg wurde dabei völlig verwüstet. Mit dem zweiten Anschlag, dem Blutbad auf Utöya, hatte der Rechtsradikale ein Lager von jugendlichen Mitgliedern und Sympathisanten der regierenden sozialdemokratischen Partei ins Visier genommen.
(rub, mit Material von sda/AFP/dapd)
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