Bald ein Jahr ist es her, seit sich die Wahl von Bundesrat Ignazio Cassis ihrem Höhepunkt näherte und man es kaum mehr aushielt – nicht vor Spannung, sondern weil das Kandidatenkarussell zunehmend langweilte. Am Ende war es den meisten wohl gleichgültig, welcher Freisinnige gewählt wird. Hauptsache, das Theater fand endlich ein Ende.
Heute aber steht fest: Cassis ist für den Bundesrat ein Glücksfall. Nach dem zaghaften, stets ein wenig unfroh wirkenden Didier Burkhalter überrascht der neue Aussenminister durch munteren Tatendrang und einen gesunden Mangel an Berührungsängsten. Schon lange nicht mehr hat ein Bundesrat in seinem ersten Jahr so viele verkrustete Denkmuster aufgebrochen und Impulse gesetzt. Anfangs machte er es einem leicht, ihn zu unterschätzen: Wie er völlig schmerzfrei auf seinem aberwitzig gemusterten Sofa posierte. Und mit Bauklötzen die blockierten EU-Verhandlungen illustrierte. Oder wie er vor seiner Wahl allen Parteien einfach alles versprach – und sich so den Vorwurf des Opportunisten einhandelte.
Bald aber wurde klar, dass Cassis seine eigenen Pläne hat. Dass hinter der demonstrativ zur Schau gestellten Unbedarftheit eine Strategie steckt. Zum ersten Mal deutlich machte er dies im Frühjahr bei seinem Besuch im Nahen Osten, bei dem er das UNO-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge, UNRWA, kritisierte. Unter Cassis' Vorgängern war derlei Kritik tabu. Auch wenn das mit jährlich rund 30 Millionen Franken unterstützte Hilfswerk seit Jahren keine Fortschritte mehr erzielte, teils den Terrorismus der Hamas verharmloste oder antisemitische Schulbücher bezahlte, blieb die Schweiz vor der Ära Cassis ständig: stumm.
«Vor allem die SP mit Präsident Levrat hat sich auf ihn eingeschossen.»
Unbequeme Wahrheiten fördert Cassis auch in der Deza, der Schweizer Entwicklungshilfeorganisation, zutage. Jahrzehntelang verweigerten sich die Diplomaten praktisch jeglicher Kritik und Einflussnahme – als ob sie eine Art Heiligenschein trügen und die ihnen zur Verfügung stehenden Steuermillionen selber erwirtschaftet hätten. Statt ihre Hilfe auf Regionen zu konzentrieren, aus denen Tausende Menschen nach Europa flüchten, verteilten sie ihre Gelder nach Ostasien, Lateinamerika oder in die Karibik. Wie ehemalige Kader erzählen, lebt die Deza mit ihren 650 (!) Vollzeitstellen und ihrem Milliardenbudget noch immer in den Strukturen des Kalten Krieges – weil vor Cassis kein Bundesrat es gewagt hätte, reinzureden.
Sogar in der EU-Frage, die seit zehn Jahren blockiert ist, hat Cassis mit seiner Lohnschutz-Provokation für klare Verhältnisse und eine offene Debatte gesorgt, bei der auch die Gewerkschaften die Folgen eines Rahmenabkommens nicht mehr länger verschweigen können. Dafür erntete er ebenso harsche Kritik wie bei seinen anderen Vorstössen. Vor allem die SP mit Präsident Christian Levrat («Cassis verhält sich wie ein Praktikant») hat sich auf den neuen Bundesrat eingeschossen. Kein Wunder, sie hatten mit Micheline Calmy-Rey und dem linksfreisinnigen Burkhalter zuvor während 15 Jahren im Aussendepartement den Ton angegeben.
Cassis lächelt die Kritik einfach weg. Unbeeindruckt vom Geschrei verfolgt er seinen Plan. Er tut genau das, was von einem neu gewählten Staatsmann erwartet wird.
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Forza Cassis!
Aussenminister Ignazio Cassis fördert unbequeme Wahrheiten zutage und sorgt für klare Verhältnisse.