Falke oder Phantom?
Er gilt als einer der mächtigsten Posten der Finanzbranche: Wer ihn inne hat, steht gerade für das Schicksal des Euro. Im Jahr 2011 übernimmt ein Neuer das Amt des Vorsitzenden der Europäischen Zentralbank (EZB).
Jean-Claude Trichet verlässt Ende Oktober 2011 die Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) – turnusmässig nach acht Jahren. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder müssen sich bald auf einen Nachfolger festlegen.
Gerüchte kursieren seit Monaten. Auf zwei Kandidaten haben sich die Flüsterer auf Europas Fluren eingestimmt: den Präsidenten der Deutschen Bundesbank, Axel Weber, und den Gouverneur der italienischen Notenbank, Mario Draghi. Die Rede ist von Tauschgeschäften unter den Staaten – vor allem den Schwergewichten Deutschland und Frankreich –, von ausgeklügelten Coups und Paketlösungen. Dementi folgt auf Dementi – doch die Gerüchte werden dadurch eher angeheizt als ausgelöscht. Nur zwei sagen nichts: Weber und Draghi.
Sein grösster Feind heisst Inflation
Der Deutsche galt vor einigen Monaten als für den Posten gesetzt. Axel Weber, der Lehrerssohn aus einem pfälzischen 5000-Seelen-Dorf. Seine Ziele entsprechen in gewisser Weise dem, was das Klischee von einem erwartet, der bodenständig in der konservativen Provinz aufwuchs: Der 53-Jährige steht für Sicherheit, kein Risiko für den Euro, sondern Stabilität. Er ist der geldpolitische Falke, sein grösster Feind heisst Inflation.
Dem Wirtschaftsprofessor wird das Denken eines Wissenschaftlers und die Durchsetzungskraft eines Politikers nachgesagt. Alles, was einer braucht, der in ein Amt strebt, dessen Besetzung von der Politik abhängt, in dem man gleichzeitig aber unabhängig von den Regierungen agiert.
Chancen für Mario Draghi steigen
Doch dann wurde es Mai. Es kam die Griechenland-Krise, es kam die Entscheidung der Zentralbank, Staatsanleihen von in Schieflage geratenen Staaten zu kaufen, es kam ein Interview mit der «Börsen-Zeitung», in dem Weber sagte: «Der Ankauf von Staatsanleihen birgt erhebliche stabilitätspolitische Risiken, und daher sehe ich diesen Teil des Beschlusses des EZB-Rats auch in dieser ausserordentlichen Situation kritisch.» Er kritisierte öffentlich die Entscheidungen der EZB. Ein Affront. Ein Ausrutscher? Kaum. Weber ist Profi.
Es war der Punkt, ab dem die Chancen für Mario Draghi zu steigen begannen. Geräuschloser als Weber arbeite er, heisst es. Abwartend, wie ein Phantom, gehe der ehemalige römische Jesuiten-Schüler vor. Als Vorsitzender des Financial Stability Boards versucht der 63-Jährige eine nächste Wirtschaftskrise zu verhindern. Anders als Weber ist Draghi kein Quereinsteiger, war Vizepräsident der Investmentbank Goldman Sachs.
Ein heisses Duell
Flankiert wurde sein vermeintlicher Aufstieg von weiteren Gerüchten um Weber. Mit dem Chefposten beim Internationalen Währungsfonds wurde Weber in Verbindung gebracht. Auch als Nachfolger von Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann wurde Weber schon gehandelt.
Doch auch Draghi kam auf Abwege, ebenfalls via Zeitung. In der «Financial Times» warnte er kürzlich davor, den Ankauf von Staatsanleihen weiter voranzutreiben und sprang Weber damit in dessen EZB-Kritik indirekt zur Seite. «Ich bin mir voll und ganz darüber im Klaren, wie riskant es ist, einen bestimmten Punkt zu überschreiten, an dem wir alles verlieren, was wir haben, nämlich unsere Unabhängigkeit», sagte der Italiener.
Steht es nun unentschieden zwischen Weber und Draghi? Die Gerüchte gehen weiter – die Dementi auch.
AFP/bru
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