Eutopia 2025
Europa könnte bald zerschellen an den Egoismen seiner Nationen und den Hetzreden seiner Verderber. Doch Europa ist ein krisenerprobter Kontinent.

Rom, den 9. Mai 2025: Eine schwarze Limousine biegt, vom Pantheon her kommend, in die Strasse der Kaiserforen ein. Der weisshaarige Herr im Fond, er ist bereits Mitte 80, scheint die Menschenmenge nicht zu bemerken, die sich zu beiden Seiten der Strasse ballt. Aufmerksam liest er noch einmal das Dokument durch, das gleich Geschichte machen wird. Italiener, Polen, Luxemburger, Deutsche, Franzosen, Esten, Iren und Slowenen jubeln dem Mann im Wagen wie einem Popstar zu und schwenken die neue Flagge: ein goldgelber Stern auf blauem Grund.
Der Chauffeur fährt die Via di S. Pietro in Carcere hoch und bringt das Auto auf dem Kapitol vor dem Reiterstandbild Mark Aurels zum Stehen. Ein blauer Teppich, der Farbwahl war ein langer Streit der Protokollchefs vorangegangen, führt zum Konservatorenpalast. Davor haben sich der französische Präsident, die deutsche Kanzlerin (oder der deutsche Kanzler) sowie die Staats- und Regierungschefs von zehn weiteren EU-Staaten aufgereiht. Sergio Mattarella steigt, jede Hilfe ablehnend, aus dem Fond und begrüsst seine Kollegen. Dann gehen sie hinein in den Saal der Horatier und Curatier, um die Verträge zur Gründung der USE zu unterzeichnen, der «United States of Europe».
Utopien, wie die vom vereinten Europa, werden nur belächelt oder sogar ignoriert. Doch ein bisschen Utopie darf sein.
In diesen Zeiten haben Dystopien Konjunktur. In Bestsellern, Blockbustern und Angstträumen. Sie künden von einer Zukunft, die den Zerfall der Zivilisationen bringt, von Umweltdesastern, Atomkriegen oder der Tyrannei einer künstlichen Intelligenz. Positive Utopien, wie die vom vereinten Europa, werden nur noch belächelt oder ganz ignoriert. Und während der wissenschaftlichtechnische Geist des Menschen in ungeahnte Räume vorstösst, fällt sein zivilisatorischer Geist in Zeiten zurück, die als überwunden galten.
Die Brasilianer wählen einen rechtsextremen Diktatur- und Folter-Freund zum Präsidenten. Grossbritannien schwächt sich selbst, indem es die EU verlässt. In Washington krakeelt ein grössentrunkener Narzisst ganz Amerika nieder. Und in Italien, das der Welt unter den alten Römern das Modell eines auf Vernunft gebauten Staatswesens schenkte, regiert eine Koalition aus Populisten, die das Land dreist lächelnd Richtung Staatsbankrott führt. Und Europa?
Europäische Idee überwand schon viele Krisen
Die EU ist nicht in der Lage, die Verteilung von ein paar Zehntausend Flüchtlingen auf ihre Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Sie leistet sich – in Zeiten der Abwendung der USA und der aggressiven Zuwendung Russlands und Chinas – 28 verschiedene Armeen. Sie streitet, während neue Welthandelskriege ausbrechen, endlos darüber, ob eher gespart oder investiert werden sollte. Griechen und Italiener werfen den Deutschen vor, sich an ihrer Not zu bereichern. Die Deutschen kontern, die Südländer wollten nur an ihr Geld. Etliche Polen argwöhnen, Berlin wolle via Brüssel doch noch Europa beherrschen. Und die Franzosen? Gefallen sich darin, den ersten grossen Präsidenten kleinzureden, den sie seit François Mitterrand haben.
Ja, die Zeichen scheinen auf Dystopie zu stehen. Europa könnte bald zerschellen an den Egoismen seiner Nationen, den Ängsten seiner Bürger, den Hetzreden seiner Verderber. Doch Europa ist ein krisenerprobter Kontinent. Zwölf Jahre nach dem Ende des grössten Blutbads seiner Geschichte unterzeichneten 1957 die Staats- und Regierungschefs von sechs Ländern die Römischen Verträge, die Gründungsakte, auf denen die EU fusst.
Die Idee des vereinten Europas überwand die deutsch-französische «Erbfeindschaft», den Kalten Krieg und die Weltfinanzkrise nach dem Jahr 2008. Sie trotzt Donald Trump. Sie hält den Erschütterungen des Brexit stand. Sie erkennt die Bedrohung durch krakenhaft wuchernde Internetkonzerne und eine entfesselte Weltfinanzspekulation. Und sie widersteht bislang den Angriffswellen der Nationalisten, die Europa zerstören möchten. Ein bisschen Utopie in die Dystopie hinein sei daher erlaubt. Ein bisschen Wein in den Wermut, etwas Barolo in den Fusel der Populisten, der schnell in den Kopf steigt, aber einen mörderischen Kater hinterlässt.
Deutsch-französischer Vorstoss verblüfft alle
Berlin, im Januar 2020: Der französische Präsident Emmanuel Macron und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel verschanzen sich mit engsten Beratern 48 Stunden lang im Kanzleramt. Dann treten sie vor die verblüffte Öffentlichkeit: Einen europäischen Bundesstaat wollen sie gründen, mit eigenem Parlament, eigener Regierung, einem Verfassungsgericht und der Hauptstadt Strassburg. Ein Konvent unter Leitung des bisherigen italienischen Präsidenten Sergio Mattarella solle die Verfassung ausarbeiten. Alle EU-Staaten, die den Euro eingeführt haben, seien eingeladen, dem neuen Bundesstaat beizutreten, jedoch nur nach einem Volksentscheid. Nie wieder solle Europa an seinen Bürgern vorbei erbaut werden.
Viele Kommentatoren sind entsetzt: Der Präsident und die Kanzlerin machten sich lächerlich. Weder Franzosen noch Italiener oder gar Polen seien bereit, ihre nationale Souveränität aufzugeben. Und selbst die Deutschen, gern auf der Flucht aus ihrer Geschichte, würden Nein sagen. Renationalisierung sei das Gebot der Stunde. Weniger Europa. Mehr Nationalstaat.
Wenn sich Kardinäle aus aller Welt in einem Konklave einigen können, warum dann nicht Politiker aus ganz Europa?
Es kommt anders. Der deutsch-französische Vorstoss, flankiert von einigen anderen Staaten, führt dazu, dass alle 19 Euro-Staaten Delegierte nach Rom entsenden. Oft nicht aus Überzeugung, sondern aus dem Willen heraus, Einfluss nehmen und bremsen zu können. Doch dann entgleiten die Ereignisse ihrer Regie. Im römischen Pantheon entwickelt sich die Atmosphäre eines Konklaves. An historischem Ort, weit weg von den Hauptstädten und gut verpflegt mit römischer Küche und toskanischen Weinen, beginnt sich unter den Delegierten ein eigener Geist zu regen. Wenn sich Kardinäle aus aller Welt einigen konnten, warum dann nicht Politiker aus ganz Europa?
Unter der Leitung des Verfassungsjuristen Mattarella formen die Delegierten ein Grundgesetz für die Vereinigten Staaten Europas. Dabei geht es ihnen nicht darum, die Nationalstaaten abzuschaffen. Im Gegenteil. Sie wollen sie retten, indem sie ihnen die Möglichkeit bieten, in einer Welt im Umbruch gemeinsam zu bestehen und das Wohl ihrer Bürger zu schützen.
Der Entwurf, den Polen, Litauer, Belgier, Spanier, Deutsche und die anderen erarbeiten: ein schlanker Bundesstaat, der sich um Verteidigung, Terrorabwehr, äusseren Grenzschutz, Migration, Handelspolitik, Steuerharmonisierung, eine soziale Mindestsicherung und die Angleichung der Lebenschancen seiner Bürger kümmert. Und Mitgliedsstaaten, die ihre nationale Identität bewahren und weiterhin das erledigen, was nicht zwingend gemeinsames Handeln nötig macht.
Europa-Referenden im Jahr 2024
Doch so mächtig der Gemeinschaftsgeist im Pantheon auch weht, er wäre an den nationalen Ängsten und Egoismen gescheitert, wenn ihn nicht fatale Ereignisse draussen in der Welt stärken würden: In den USA versucht Donald Trump, der Ende 2018 das Repräsentantenhaus an die Demokraten verloren hat, seine Allmacht durch nie gekannte Aggressivität wiederherzustellen. Der Austritt Grossbritanniens aus der EU führt zu einem Wirtschaftseinbruch und grosser Ernüchterung vieler Menschen im Königreich.
In Italien muss die Koalition aus den Parteien Lega und Cinque Stelle unter den Schutzschirm des Europäischen Stabilitätsmechanismus fliehen, um dem Staatsbankrott zu entgehen. So verspielen die Populisten die Souveränität der Italiener, die zu verteidigen sie behauptet hatten. Unterdessen mischt sich China immer dreister in Europa ein, insbesondere in Südosteuropa. Und der russische Präsident Wladimir Putin schwärmt vom früheren Sowjetimperium. Das gibt vielen zu denken, die die EU bislang mit Skepsis sahen. Vielleicht ist ja doch mehr Europa besser als weniger?
Zur Überraschung vieler Auguren entscheiden sich bei den Referenden des Jahres 2024 die Menschen in zwölf der 19 Euro-Länder dafür, es mit einem europäischen Bundesstaat zu versuchen. Darunter sind Franzosen und Deutsche, verblüffenderweise aber auch Polen und Italiener. Einer Mehrheit der Polen ist europäischer Schutz und Wohlstand am Ende wichtiger als nationaler Trotz. Und in Italien befindet eine Mehrheit, es sei wohl doch besser, im Zentrum Europas für die eigenen Interessen einzutreten, als vom Rand her zuzuschauen. Kurz nach den Referenden werden in Warschau und Rom die nationalpopulistischen Regierungen bei vorgezogenen Wahlen abgewählt.
Alles ein Märchen? Zu naiv, um wahr zu sein? Womöglich. Womöglich aber auch nicht.
So kann Mattarella am 9. Mai 2025 seine Triumphfahrt zum Kapitol antreten. Schneller und leichter als erwartet bildeten sich paneuropäische Parteien für die erste Wahl zum Strassburger Bundesparlament: Christdemokraten, Sozialisten, Liberale, Konservative, Grüne, Nationalisten und einige andere. Eine Koalition aus Christdemokraten, Liberalen und der überraschend erfolgreichen neuen sozialliberalen Partei «L'Europe en Marche» wählt die Italienerin Federica Mogherini zur Premierministerin. Sie ruft in ihrer Regierungserklärung alle anderen EU-Staaten und Grossbritannien auf, einen Beitritt zu den Vereinigten Staaten von Europa anzustreben. Mit all jenen Ländern aber, die nicht so weit gehen wollen, werde man in der weiter bestehenden Europäischen Union eng zusammenarbeiten.
Alles ein Märchen? Zu naiv, um wahr zu sein? Womöglich. Womöglich aber auch nicht. Dass die Welt für die Staaten in Europa immer gefährlicher wird, ist wahrscheinlich. Doch die Antworten auf viele Fragen sind offen. Ob sich die Franzosen in einen europäischen Gesamtstaat einordnen werden. Ob es die Osteuropäer akzeptieren, dass ihre nationale Souveränität in einem supranationalen Staat am besten zu verteidigen ist. Ob die Italiener einwilligen, etliche Jahre harter Reformen zu ertragen, um langfristig zu reüssieren. Und ob die Deutschen verstehen, dass sie auf Dauer nur dann glücklich in Europa leben werden, wenn sie einen Teil ihres Reichtums mit den anderen Europäern teilen.
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