Erdogan auf Charme-Offensive
Plötzlich ganz nett: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan lobt seine europäischen «Freunde». Er taktiere nur, vermuten Experten. Denn die Türkei sei zunehmend isoliert.

Vor nicht allzu langer Zeit beschimpfte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Politikerkollegen in Westeuropa noch als Nazis und Islamfeinde. Doch als er kürzlich über die Staats- und Regierungschefs in der EU sprach, klang das plötzlich ganz anders: Von «alten Freunden» war die Rede, mit denen er «keine Probleme» habe.
Jetzt besuchen Erdogan und seine Minister westeuropäische Amtskollegen, die sie lange gemieden haben. Der Präsident reiste am Freitag zum ersten Mal seit zwei Jahren nach Frankreich, und Aussenminister Mevlüt Cavusoglu fliegt heute Samstag zu Gesprächen mit Bundesaussenminister Sigmar Gabriel nach Deutschland. Hinter der Reisediplomatie steht eine taktische Neuausrichtung der türkischen Aussenpolitik.
Zerrüttete Beziehungen
Dreh- und Angelpunkt der Neuentdeckung der «alten Freunde» in Europa sind die im kommenden Jahr anstehenden Wahlen in der Türkei, bei denen Erdogan das von ihm geforderte Präsidialsystem vollenden will.
Unter anderem aus wirtschaftlichen Gründen will Erdogan vor dem Wahlkampf die türkischen Beziehungen zu den EU-Staaten normalisieren. So hatte Deutschland im Streit um die Inhaftierung von Bundesbürgern in der Türkei die staatlichen Hermes-Bürgschaften für Türkei-Geschäfte deutscher Unternehmen begrenzt.
Auch politische Motive befördern die Wiederannäherung an die Europäer. Im Nahen Osten ist die Türkei isoliert; zu wichtigen Staaten wie Saudiarabien und Ägypten gibt es erhebliche Differenzen. Das Verhältnis zu den USA, dem wichtigsten westlichen Verbündeten, ist ebenfalls zerrüttet.
Zum Streit um die amerikanische Unterstützung für die Kurden in Syrien tritt der türkische Verdacht, dass Washington in eine Verschwörung gegen die Regierung Erdogan verwickelt ist. Jüngster Anlass für Kritik an den USA ist das Urteil eines New Yorker Gerichts gegen einen hochrangigen Manager einer staatlichen türkischen Bank wegen Verstössen gegen amerikanische Iran-Sanktionen; in dem Prozess waren Korruptionsvorwürfe gegen Erdogans Regierung laut geworden.
Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin verdammte das Urteil am Donnerstag als «Skandal». Vizepremier Bekir Bozdag sagte, mit dem Prozess solle der Türkei eine «politische Falle» gestellt werden.
«Differenzen werden bleiben»
Vor diesem Hintergrund sei Erdogans ausgestreckte Hand Richtung Europa als taktisches Manöver zu sehen, sagt Aykan Erdemir, ein ehemaliger türkischer Parlamentsabgeordneter, der für die Denkfabrik Foundation for Defense of Democracies in Washington arbeitet.
Der türkische Präsident betrachte die Wiederannäherung als «transaktionale» Aktion, von der er sich Vorteile für die Türkei verspreche, sagte Erdemir unserer Zeitung. Einen grundsätzlichen Wandel hin zu einer proeuropäischen Politik kann Erdemir bei dem türkischen Präsidenten nicht erkennen: Erdogan werde zu seiner früheren «feindseligen Rhetorik» zurückkehren, wenn es seinen wahltaktischen Überlegungen entspreche.
Differenzen zwischen der Türkei und den Europäern etwa beim Thema Menschenrechte bleiben weiter bestehen, auch gibt es keine Hinweise auf Bemühungen um eine Wiederbelebung des türkischen EU-Beitrittsprozesses. Adressaten der türkischen Initiative sind einzelne EU-Staaten wie Frankreich und Deutschland, nicht die EU an sich.
In Frankreich wollte sich Erdogan mit Präsident Emmanuel Macron unter anderem über einen Ausbau der Handelsbeziehungen unterhalten (vgl. Box). Auch bei Cavusoglus Besuch in Deutschland geht es darum, das in den Krisenmonaten des vergangenen Jahres verloren gegangene Vertrauen wiederaufzubauen.
Ob die türkischen Bemühungen Erfolg haben werden, ist offen. Macron kündigte an, er werde mit Erdogan über das Thema Pressefreiheit und die Inhaftierung von Journalisten in der Türkei sprechen; die türkische Justiz hatte jüngst zwei französische Journalisten vorübergehend inhaftiert. In der Vergangenheit hatte Erdogan auf Mahnungen aus Europa häufig sehr pikiert reagiert.
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