Harsches Urteil gegen HistorikerEr redet vom Grauen, das der Kreml vergessen will
Juri Dmitrijew arbeitete die Verbrechen des stalinschen Terrors auf, er entdeckte Massengräber und identifizierte Tausende namenlose Tote. Nun sitzt er selbst für 15 Jahre im Straflager.

Nach dem Urteilsspruch konnte Juri Dmitrijew kurz mit seiner Tochter sprechen. 15 Jahre muss er ins Straflager, entschied vergangene Woche ein Gericht in Karelien. Der Vater habe ihr gesagt, berichtet die Tochter der Zeitung «Nowaja Gaseta», «dass es jetzt noch nicht 1937 ist. Genauer gesagt, noch nicht August 1937.» Damals, im August 1937, begann eine der grausamsten Operationen des Grossen Terrors unter Josef Stalin. «Jetzt», habe ihr Vater gesagt, «ist es etwa März.»
Mit russischer Geschichte kennt Juri Dmitrijew sich aus, das Thema hat ihn wahrscheinlich ins Gefängnis gebracht. Sein Ausblick ist düster: Nur einen Tag nach dem Urteil gegen ihn entschied ein Moskauer Gericht, die Organisation aufzulösen, für die er arbeitete: Es liquidierte Memorial, die renommierteste Menschenrechtsorganisation in Russland.
Das Gefängnis kam ihm vertraut vor
Das Schicksal von Juri Dmitrijew und das von Memorial sind untrennbar verbunden. Die Organisation arbeitet das Unrecht auf, das Millionen Menschen in der Sowjetunion widerfahren ist. Dmitrijew grub in Karelien, das im Nordosten Russlands liegt, die Knochen der Opfer des Grossen Terrors aus, fand die sterblichen Überreste Tausender erschossener Russen, Ukrainer, Finnen, Polen, Armenier. Er erinnerte damit an etwas, das der Kreml lieber vergessen machen möchte.
Den grössten Teil der vergangenen fünf Jahre sass Dmitrijew in Untersuchungshaft in Petrosawodsk. Als er 2018 für einige Monate freikam, beschrieb er der «Nowaja Gaseta» seine Zeit im Gefängnis, das ihm auf seltsame Weise vertraut vorkam. Er kannte das Schicksal vieler Menschen, die achtzig, neunzig Jahre vor ihm dort gesessen hatten. Er habe begriffen, «was sie empfanden, wenn sie genau diese Wände sahen, über genau diese Korridore gingen, genau diese Metalltüren krachen hörten». Zwei Monate später wurde er schon wieder festgenommen.

Der Vorwurf gegen ihn lautete, er habe pornografische Fotografien seiner Pflegetochter gemacht. Dmitrijew und seine zweite Frau hatten das Mädchen aus dem Kinderheim zu sich geholt, als Dmitrijews leibliche Kinder erwachsen waren. Mit derselben Genauigkeit, mit der er Opferlisten schrieb, dokumentierte er die Gesundheit des Kindes. Mehrere Experten konnten später nichts Pornografisches daran erkennen.
2018 sprach ihn das Gericht in Petrosawodsk dann auch frei, kurz darauf nahm der oberste Gerichtshof von Karelien den Freispruch zurück. Dmitrijew wurde nun zusätzlich Missbrauch vorgeworfen, er wurde jedoch nur zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Wieder schritt die höhere Instanz ein, so ging es hin und her, bis das Urteil stand, das offenbar politisch gewollt war: 15 Jahre. Beabsichtigt war offenbar auch, Dmitrijews Ruf zu zerstören und damit alles, was er erreicht hat, wertlos erscheinen zu lassen.
Er studierte alte Erschiessungsbefehle, durchsuchte die Wälder Kareliens nach den Toten.
Was Dmitrijew erreicht hat, ist keine kleine Sache. Er entdeckte mehrere Massengräber in Karelien, darunter in Sandarmoch eines der grössten in Russland. Allein dort hat er beinahe achttausend Erschossene, die in der Walderde begraben liegen, namentlich identifiziert. Dabei ist er kein Historiker, wollte früher Mediziner werden, brach sein Studium aber ab. Zu Perestroika-Zeiten arbeitete er ehrenamtlich bei einem sowjetischen Abgeordneten. So erfuhr er davon, als Ende der Achtzigerjahre in einer karelischen Provinzstadt menschliche Überreste gefunden wurden. Er fuhr hin, fand ein Einschussloch in einem der Schädel, ein Stück Zeitung von 1937 in einem Schuh aus der Grube. So fing alles an: In den folgenden Jahrzehnten studierte er alte Erschiessungsbefehle, durchsuchte die Wälder Kareliens nach den Toten.
Der Kreml hat viel unternommen, um die Kontrolle über das Erinnern zurückzugewinnen. Dmitrijew hat damit gerechnet, eingesperrt zu werden. Er versuche, sagte er, sich ein Beispiel zu nehmen an denen, die vor ihm in der Zelle sassen: «Sag die Wahrheit und habe vor nichts Angst.»
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