Einleitung: Was Bern aus seiner Geschichte lernen kann
Wer gegen Berns Zweitrangigkeit ankämpfen will, muss wissen, wie es dazu kam. Der «Zeitpunkt» blickt in mehreren Beiträgen zurück in die Geschichte des Kantons. Auf der Suche nach verpassten Weichenstellungen und Berns Potenzial.

Wie konnte es bloss so weit kommen? Vor rund 200 Jahren war die alte Stadtrepublik Bern der reichste, grösste und potenteste Teilstaat der Eidgenossenschaft. Heute ist der Kanton Bern ihr grösster Patient und bezieht aus dem nationalen Finanzausgleich den jährlichen Rekordbetrag von 855 Millionen Franken. Auch die Stadt Bern blickt zurück auf einen Abstieg. Als sie 1848 Bundesstadt wurde, konkurrenzierte sie mit Zürich um den Rang der stärksten Stadt im Land. Heute spielt Bern – ökonomisch betrachtet – in der zweiten Liga der Schweizer Städte.
Nützliche Geschichtslektion
Nach Jahrzehnten des schleichenden Niedergangs ist das Berner Image und Selbstbewusstsein erschüttert. Aber nun versucht Bern, neu Tritt zu fassen, seine Kräfte zu bündeln, sein Profil zu schärfen. Als «Hauptstadtregion» und Politzentrale des Landes will es sich auf gleicher Höhe wie die «Metropolitanregionen» Zürich, Basel und Genf-Lausanne positionieren.
Der Kanton Bern steht vor einer doppelten Herausforderung: Er kämpft nicht nur im Wettstreit der Grossregionen um den Anschluss, auch sein Innenleben ist aufreibend. Die Landregionen sind von den Überschüssen weniger urbaner Zentren abhängig. Dieses Missverhältnis hat sich in den letzten 200 Jahren stetig verschärft. Grossräumige Vorwärtsstrategien scheitern heute oft an einer Stadt-Land-Blockade.
Der Berner Nationalrat und SVP-Kantonalpräsident Rudolf Joder erklärte auf diesen Seiten im Gespräch über die «Hauptstadtregion» jüngst: «Die Gründe für Berns Abstieg beschäftigen mich schon lange, es ist Teil meiner politischen Arbeit, dagegen anzukämpfen.» Joders Aussage könnte ein Motto für Politiker und Unternehmen sein. Wer Bern voranbringen will, muss wissen, wie es im Laufe der Geschichte in Rücklage geraten ist.
Vorschneller Adrian Amstutz
Wie steht es um das Geschichtsbewusstsein der Berner Politiker? Auf Berns historischen Bedeutungsverlust angesprochen, erklärte SVP-Ständeratskandidat Adrian Amstutz dem «Zeitpunkt» kürzlich, Bern habe diesen durch sein «Musterschülerverhalten» in Form von teurem Demokratiewildwuchs, Perfektionswahn und der grassierenden Überreglementierung selber zu verantworten. Die heutige rot-grüne Kantonsregierung «säge munter weiter an diesem Ast».
Amstutz' Forderung, Bern müsse sich selber an der Nase nehmen, ist berechtigt. Aber er unterschätzt das zähe Wirken historischer Kräfte. Der Verlauf der Geschichte erinnert an die Fahrt eines schwer manövrierbaren Tankers. Kurskorrekturen zeigen erst mit einer Verzögerung Wirkung. Berns frühere Versäumnisse kann man nicht mit markigen Worten ungeschehen machen. Und man muss diese an die richtigen Adressaten richten. Der Misserfolg hat, historisch betrachtet, viele Väter. Die Ära der mehrheitlich rot-grünen Kantonsregierung ist jung. Die entscheidende Stagnationsphase durchlebte der Kanton Bern von 1920 bis in die 1990er-Jahre unter der Ägide der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), aus der 1971 Amstutz' und Joders SVP wurde.
Aus Amstutz' Worten spricht nicht nur der Politiker, sondern auch der Unternehmer, der sich an den vom Staat gesteckten Rahmenbedingungen reibt. Der Staat ist aber nicht allein verantwortlich für mangelnde ökonomische Dynamik. Auch die Wirtschaft steht in der Pflicht. Wenn sie dem Staat die Schuld am Malaise zuschiebt, bringt das Bern nicht voran.
Genügsame Ursula Wyss
SP-Ständeratskandidatin Ursula Wyss antwortete auf die «Zeitpunkt»-Frage nach Berns Bedeutungslosigkeit, der Kanton sei in der jüngeren Vergangenheit nie die wirtschaftlich treibende Kraft der Schweiz gewesen. Er beziehe seine Bedeutung aus seiner geografisch und politisch zentralen Position zwischen Deutschschweiz und Romandie. Diese Rolle gehe «in der Rankingkultur der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit leider unter».
Wyss' Einschätzung ist wahr, aber genügsam. Von 1890 bis 1920 machten Stadt und Kanton Bern unter freisinniger Ägide in einem beispiellosen wirtschaftlichen Boom Boden gut. In Zukunftsbranchen wie der Elektrifizierung war der Kanton damals europäische Spitze. Seine Position hat er nicht einfach wegen ungünstiger Umstände verloren, sondern ab 1920 aktiv verspielt. Auch Wyss' SP spielte dabei eine Rolle. Sie hat in einem informellen Verbund mit der bäuerlich-kleingewerblichen BGB die Berner Wirtschaft öfter mit staatlichen Zuwendungen vor den Anforderungen des Marktes bewahrt – und so träg gemacht.
Lücken in Berns Erinnerung
Um Berns Lage und Verbesserungspotenzial zu erkennen, muss man nicht nur gewachsene Strukturen analysieren, sondern auch nach verpassten Weichenstellungen, Fehlentscheidungen und den dafür Verantwortlichen suchen. Der «Zeitpunkt» befragt unter diesem Blickwinkel die letzten 250 Jahre Berner Geschichte, in einer heute beginnenden, mehrteiligen Serie.
Diese Rückschau bleibt skizzenhaft, weil Berns Geschichte unvollständig erforscht ist. «Die Regionalgeschichte ist heute in der historischen Forschung unbeliebt», sagt Christian Pfister, pensionierter Berner Professor für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte. Die offiziöse «Geschichte des Kantons Bern seit 1798», von Beat Junker im Auftrag des Regierungsrats verfasst, beschreibt nur die Politik. Der von Pfister nachgelieferte Band zu Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt blickt bis 1914.
In Berns Geschichtsschreibung klaffen Lücken, entscheidendes Know-how über das Berner Malaise fehlt deshalb. So ist laut Pfister unerforscht, warum der Eisenbahnbau im Kanton Bern viel weniger industrielle Impulse auslöste als anderswo. Und über die Stagnationsphase ab 1920 und die Rolle der SVP-Vorläuferin BGB gebe es bloss «punktuelle Erkenntnisse».
«Der Berner Bär kann rennen»
Für die Erforschung dieser weissen Flecken auf der historischen Karte fehlt laut Pfister auch das Geld. Wenn es fliesse, dann eher in Darstellungen der schönen alten Zeit wie den vom Verein Berner Zeiten publizierten Riesenbänden «Berns goldene Zeit» oder «Berns grosse Zeit». «Man erforscht lieber Berns Aufstieg als den Abstieg», kritisiert Pfister.
Gehört gerade die mangelnde Bereitschaft, eigene Fehler zu studieren, zur Berner Mentalität? Pfister widerspricht der Vorstellung, dass Trägheit und Risikoscheu Berns unabänderliche Erblast sei. «Unter günstigen Bedingungen kann der Berner Bär rennen», sagt er mit Blick auf die Boomphase ab 1890. Überdies wandle sich Bern stark, es sei heute selbstkritischer.
Ein Signal dafür ist, dass Mitte Mai im Stämpfli-Verlag der fünfte und letzte grosse Berner Geschichtsband erscheint. «Berns moderne Zeit» arbeitet in zahlreichen Artikeln zu Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft und Politik Berns schwieriges 19. und 20.Jahrhundert auf. Der Band stellt den Anschluss an die Gegenwart her, kann aber längst nicht alle Lücken schliessen.
stefan.vonbergen@bernerzeitung.ch
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