Eine politische Sensation liegt in der Luft
Ein Ja zur SVP-Initiative gegen die Masseneinwanderung müsste auch als ein Misstrauensvotum gegen die Schweizer Regierung gewertet werden.

Eine Woche vor der für das Land bedeutsamen Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative liegt eine Sensation in der Luft. Wie die letzten Meinungsumfragen zum bevorstehenden Urnengang zeigen, könnte in einer Woche das bisher Undenkbare möglich werden: ein Ja zum Volksbegehren der SVP. Eine Annahme wäre ein derartiger Bruch mit der bisherigen Politik einer offenen Volkswirtschaft, dass eigentlich alle sieben Bundesräte sofort zurücktreten müssten.
Denn ein Ja wäre nicht bloss die Annahme einer Initiative, die man mit Biegen und Brechen zu verhindern versucht. Ein Ja müsste auch als Misstrauensvotum gegen die Regierung gewertet werden. Die gesamte Wirtschaftspolitik in diesem Land ruht seit der Ablehnung des EWR durch die Schweizer Bevölkerung 1992 (78 Prozent Stimmbeteiligung) auf den bilateralen Verträgen mit der Personenfreizügigkeit als einem der zentralen Pfeiler. Die boomende Wirtschaft, die gesunden Sozialwerke, die Zuwanderung wurde den Schweizern als ökonomisches Perpetuum mobile verkauft. Für wie wichtig der Bundesrat diese Abstimmung ansieht, sah man daran, dass gleich drei Regierungsmitglieder, Simonetta Sommaruga (SP), Johann Schneider-Ammann (FDP) und Didier Burkhalter (FDP) vor den Medien ihre Argumente gegen die SVP-Initiative erläuterten.
Nur Sommaruga setzte sich richtig ein
Was wie ein machtvoller Auftritt der offiziellen Schweiz aussah, war es in Wirklichkeit aber nicht. Während der Kampagne ist von den Bundesräten eigentlich nur Justizministerin Simonetta Sommaruga aufgefallen – ausgerechnet eine Sozialdemokratin macht sich für die Personenfreizügigkeit stark, von der vor allem die Wirtschaft profitiert. Derweil Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann mit seiner unbeholfen wirkenden Rhetorik nur die Zweifel nährte. Mit den von der «Rundschau» aufgedeckten Steueroptimierungstechniken der Ammann-Gruppe steht eine Woche vor dem Urnengang gar seine Glaubwürdigkeit auf dem Spiel. Aussenminister Didier Burkhalter wiederum zelebrierte sich lieber als Schweizer Aussenminister.
Haben sich die Bundesräte von früheren Umfragen blenden lassen, welche der Regierung eine hohe Glaubwürdigkeit und eine gute Arbeit bescheinigten? Die Ungeheuerlichkeiten, die während der Kampagne zur SVP-Initiative bekannt wurden, machen den Anschein. So steht die Personenfreizügigkeit mit der EU beispielsweise wegen Fällen von Sozialhilfemissbrauch unter Druck. Während die Kampagne lief, erfuhr man plötzlich, dass Stellensuchende aus EU-Ländern keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, die Kantone aber trotzdem Sozialgelder auszahlten. Die Regierung kündigte zwar härtere Massnahmen dagegen an, viele Bürger fragen sich jedoch, wieso der Bundesrat nicht von Anfang an intervenierte.
Erfahrungen nach dem EWR-Nein nicht vergessen
Trotz der teilweise berechtigten Kritik an der Umsetzung der Personenfreizügigkeit sollte man die Erfahrungen aus der Zeit nach dem EWR-Nein nicht ausser Acht lassen. Die Schweiz schlitterte in eine schwere Wirtschaftskrise mit hohen Arbeitslosenzahlen. Auch Jahre nach dem EWR-Entscheid waren Wirtschaftsfachleute überzeugt, der damalige Entscheid habe die Schweiz zurückgeworfen. Die SVP behauptete freilich das Gegenteil. Fakt aber ist: Die Schweiz musste fast ein Jahrzehnt lang rudern, bevor sie mit der EU bilaterale Verträge abschliessen konnte. Erst danach ging es wirtschaftlich wieder aufwärts. Der Preis für die Verträge waren die Personenfreizügigkeit und wohl auch ein EU-Beitritt in absehbarer Zeit.
Der Beitritt ist inzwischen aber fast ein Tabu und nicht mehrheitsfähig. Darum drängt die EU seit 2008 auf ein institutionelles Abkommen. Damit tut sich die Schweiz bekanntlich schwer. Ein Ja zur SVP-Initiative würde einen weiteren Pfeiler umstossen, auf dem die bilateralen Verträge fussen. Wer glaubt, dass die EU-Staaten ein Schweizer Nein zur Personenfreizügigkeit tolerieren, weil auch in der Europäischen Union die Zuwanderung ein heiss umstrittenes Thema ist, der dürfte auf dem Holzweg sein – auch wenn es in der EU tatsächlich zu Einschränkungen bei der Personenfreizügigkeit kommen sollte. Die Schweiz kann sich mit Brüssel schon heute bei weniger komplizierten Problemen mit EU-Ländern nicht mehr einigen, das zeigt nur schon der Steuerstreit mit Italien.
Ein Krach mit der EU wegen der Personenfreizügigkeit wäre noch ein paar Schuhnummern grösser. Dies sollte man bitte trotz aufgestauter Wut über die jahrelangen bundesrätlichen Schönfärbereien und Unterlassungssünden nicht vergessen. Denn eine politische Sensation dieser Art ist das Allerletzte, was die sonst weltoffene Schweiz zurzeit brauchen kann.
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