Eine arktische Sinfonie
Nirgends kommt man dem Nordpol näher als auf Franz-Josef-Land. Die Fahrt mit dem Expeditionsschiff garantiert unvergleichliche Naturerlebnisse fernab jeglicher Zivilisation.
Lange bevor am Horizont Land in Sicht kommt, tauchen sie auf wie aus dem Nichts. Auf Backbord und auf Steuerbord gleiten Drachen und Kobolde am Schiff vorbei, märchenhafte Paläste, umgestürzte Wolkenkratzer – es sind die Vorboten jenes geheimnisvollen Archipels im Nordpolarmeer, den wir seit zwei Tagen ansteuern: Franz-Josef-Land.
Arktische Gletscher haben die eisigen Giganten ins Polarmeer gekippt, Wind und Wellen die filigranen Skulpturen geformt.
Zwischen den Eisbergen schaukelt eine kleine Kinderstube: Auf einer Scholle, keine zwanzig Meter von der Reling entfernt, tigert die Eisbärenmutter hin und her. Ihr Blick nimmt die Menschen ins Visier, die ihrerseits Objektive auf die Szene halten und zwischen dem Klicken der Verschlüsse in verzückte Jööö-Rufe ausbrechen.
Deutlich sind jetzt auch zwei Jungtiere zu erkennen, die hinter dem Rücken der Bärin hervorkrabbeln.
Trügerische Idylle
«Lange darf sie nicht mehr warten.» Ruedi Abbühl legt die Filmkamera zur Seite. Besorgnis schwingt in seiner Stimme mit; denn das Familienidyll, das unser Empfangskomitee vorgaukelt, ist in Wahrheit eine absehbare Tragödie. «Vor wenigen Wochen hat sie ihre Jungen in einer Bruthöhle geboren», fährt Abbühl fort. Der promovierte Zoologe verdient sein Geld als Maître de Cabine bei der Swiss und investiert es in sein Hobby.
In den entlegensten Ecken des Globus stellt er mit seiner Kamera wilden Tieren nach, und selten nur ahnen seine Passagiere, dass der Mann, der ihnen über den Wolken das Menü serviert, zugleich der Autor jener Filmdoku ist, die auf ihrem Bildschirm läuft. Das tragische Ende bleibt den Passagieren erspart: «Die Scholle wird unter ihren Tatzen wegschmelzen», sagt Abbühl. «Die Bärin wird schwimmend Land erreichen können. Aber ihre Kinder haben keine Chance.»
Während die Bärenfamilie im Nebel verschwindet, der plötzlich aufgezogen ist, inszeniert die Natur bereits das nächste Spektakel. Der Nebel ist so dicht, dass das Meer unter unseren Füssen in einer dicken Watteschicht verschwindet – und gleichzeitig so dünn, dass sich über unseren Köpfen ein blaues Fenster zum Himmel öffnet.
Die flach einfallenden Strahlen einer Sonne, die von April bis September unablässig um den Horizont kreist, lassen Myriaden feinster Wassertröpfchen in zarten Pastelltönen ineinanderfliessen. Der arktische Nebelbogen lässt jene verstummen, die in der Tageshelle das Nordlicht vermissen.
Unter diesem Bogen werden jetzt zwei Türme am Horizont erkennbar, die wie Mahnfinger in den Himmel ragen. Alsbald nehmen sie die Form kämpfender See-Elefanten an, bis sie sich schliesslich als markante Basaltfelsen entpuppen, die zum Wahrzeichen von Franz-Josef-Land geworden sind: Kap Tegetthoff.
Mit dem Dreimaster Admiral Tegetthoff waren die österreichischen Polarforscher Karl Weyprecht und Julius Payer im Juni 1872 von Bremerhaven Richtung Nordpol aufgebrochen, um einen Seeweg zu finden, der via Nordpol zur Beringstrasse und in den Pazifik führt – die berüchtigte Nordostpassage.
Die Expedition erreichte ihr Ziel ebenso wenig wie viele andere zuvor und nach ihnen. Die Fahrt endete im Packeis, das ihr Holzschiff zermalmte und die Männer dazu verurteilte, im Eis zu überwintern.
Mit der Drift hoffte man im nächsten Sommer wieder auf offenes Wasser zu stossen, um sich dann mit den Rettungsbooten in Sicherheit zu bringen. Am 30. August 1873 tauchten am Horizont merkwürdige Gebilde auf. Es waren exakt jene Felsformationen, die wir jetzt vor uns sehen. Weyprecht und Payer hatten zufällig Franz-Josef-Land entdeckt.
Statt auf Rettung zu warten, packten sie ihre Schlitten und kartografierten auf Erkundungsfahrten den Archipel, der bis heute den Namen des österreichisch-ungarischen Kaisers, ihres Auftraggebers, trägt. Nach den Wirren zweier Weltkriege ist Franz-Josef-Land jetzt russisches Territorium.
Fast hundertfünfzig Jahre nach den Entdeckern haben auch wir die nördlichste Inselgruppe der Welt erreicht. Noch bis vor kurzem wurden für die seltenen touristischen Fahrten schwere russische Eisbrecher eingesetzt, die vom Nordmeerhafen Murmansk aus nordwärts dampften. Unterdessen hat sich die Packeisgrenze in der Barentssee so weit zurückgezogen, dass Expeditionsschiffe wie die Sea Spirit von der norwegischen Inselgruppe Spitzbergen aus Franz-Josef-Land anlaufen können.
Faszinierende Geräusche
Die Sea Spirit bietet rund hundert Passagieren den Komfort eines Kreuzfahrtschiffs und zugleich die Ungezwungenheit eines Expeditionsdampfers. Dank eines stahlverstärkten Rumpfs kann sie geschlossene Eisdecken wie ein Buttermesser aufschneiden. Und hier, im Packeis zwischen den Inseln, herrscht eine Geräuschkulisse, die ebenso fasziniert wie die landschaftliche Szenerie.
Im Innern des Schiffes nehmen wir nur ein dumpfes Rumpeln wahr, wenn der Bug durchs Eis pflügt und die weisse Decke in Puzzleteile zerlegt. An Deck jedoch knarrt und stöhnt das berstende Element. Junges Eis klirrt wie zerspringendes Glas. Bald ächzt ein Brocken, der unter dem Schiffsrumpf zermalmt wird. Aufgebrochene Schollen schieben sich polternd übereinander und kentern unter leisem Stöhnen. Wie dünne Schlangen zischen schwarze Risse in alle Richtungen über das gefrorene Meer.
Und dann die Tierlaute: Zehntausende von Dickschnabellummen und Dreizehenmöwen nisten im Rubini Rock vor Hooker Island. In diesem Basaltmonolith wirken die Risse und Schrunde wie Orgelpfeifen. Sie verwandeln den Felsen in einen Klangkörper, der das Heulen des Windes mit dem Geschrei der Vögel zur arktischen Sinfonie komponiert.
Oder die Walrosse, die schnarchend ihre massigen Leiber in der Sonne trocknen – oder aber unter Kampfgebrüll die Rangordnung klären. Der Zodiak-Fahrer, der mit seinem Schlauchboot die Walross-Insel umrundet, achtet auf jede Bewegung: Sobald ein Tier ins Wasser gleitet, gibt er Vollgas, die Haut seines Bootes ist den mächtigen Stosszähnen nicht gewachsen.
Seltsame Steinkugeln
Das seltsamste Phänomen des ganzen Archipels erwartet uns auf der zentralen Champ-Insel. Kap Triest heisst die südöstlich orientierte Ecke, die für ihre riesigen Steinkugeln bekannt geworden ist. Diese sogenannten Geoden liegen, wie von der Hand eines Titanen achtlos hingeworfen, über den ganzen Strand verstreut. Die grössten weisen einen Durchmesser von drei Metern auf, andere sind nicht viel grösser als Glasmurmeln – und alle sind kugelrund.
Neben mannigfaltigen Gerüchten, die sich um die Herkunft dieser Steinkugeln ranken – hatten da Ausserirdische die Hand im Spiel? –, gibt es auch eine wissenschaftliche Erklärung: Vor Jahrmillionen haben sich um ein fossiles Insekt herum schalenartige Ablagerungen gebildet, die sehr langsam und konstant gewachsen und mit der Zeit aus der deutlich weicheren Gesteinsschicht herausgewittert sind. Derlei Phänomene sollen auch anderswo beobachtet worden sein.
Doch weltweit haben Geoden nur auf Franz-Josef-Land (und noch einem weiteren Strand in Neuseeland) über einen so langen Zeitraum ungestört und konstant wachsen können, dass sie diese Dimension erreichen konnten.
Anders als die Antarktis, die durch ein internationales Vertragswerk vor staatlichen Machtansprüchen und kommerzieller Ausbeutung geschützt ist, sehen sich die Regionen in der Hocharktis und rund um den Nordpol mit der zunehmenden Klimaerwärmung und dem schrumpfenden Eispanzer immer mehr Begehrlichkeiten ausgesetzt.
«Es ist dringend notwendig, dass wir die Natur im Norden ebenso konsequent unter Schutz stellen, wie wir dies im Süden tun», sagt der Biologe Ruedi Abbühl. Ein sanfter und nachhaltiger Tourismus könne das Bewusstsein der Menschen für das empfindliche ökologische Gleichgewicht schärfen.
«Für Franz-Josef-Land habe ich nur einen Wunsch: Die internationale Gemeinschaft soll den ganzen Archipel als Unesco-Weltnaturerbe unter Schutz stellen.»
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch