Ein Roman wie ein Springsteen-Song
Grossartige Literatur aus den USA: «Ein feiner Typ» von Willy Vlautin steigt in die Niederungen einer Preisboxerexistenz hinab.

Weil die Kritiker in Amerika gerade mal wieder darüber streiten, ob das neue Springsteen-Album eine «working class hero»-Travestie, ein Spiegel der amerikanischen Seele oder doch nur ein Kommentar auf die Ära Trump geworden ist, passt das neue Buch von Willy Vlautin gut in diese Tage.
«Ein feiner Typ» ist sein fünfter und bisher bester Roman. Alle handeln sie von genau solchen verlorenen Seelen im Südwesten der USA, wie sie Bruce Springsteens Album «Western Stars» bevölkern. Interessiert man sich für amerikanische Kulturkritik, landet man da in einer ganz interessanten Feedback-Schleife. Denn Willy Vlautin hat das Leben ja gelebt, über das er schreibt und als Songwriter auch singt.
Er wuchs als Sohn einer alleinerziehenden Sekretärin in Reno auf, der schäbigen Kasinostadt im Norden Nevadas. Er arbeitete als Lastwagenfahrer und Anstreicher, bevor er von seinen Gagen und Tantiemen als Countryrockmusiker mit seiner Band Richmond Fontaine leben und auf eine Pferdefarm in der Nähe von Portland ziehen konnte. Zuvor finanzierte er seine finanziell mässig erfolgreiche Karriere als Indie-Rockstar mit seinen Büchern.
Darf man nur beschreiben, was man selbst erlebt hat?
Springsteen dagegen hat noch nie «richtig» gearbeitet und war den grössten Teil seines Lebens Multimillionär. Was seine Texte nicht weniger authentisch macht, weil er als begnadeter Beobachter sehr wohl einen Sinn für die Nöte der sogenannten real Americans hat. Es sei denn, man lässt sich auf die Debatte um die kulturelle Aneignung ein, die oft darauf hinausläuft, dass man nur beschreiben darf, was man selbst erlitten und erlebt hat.
Diese Gleichmacherformel von Kunst und Leben geht hier nicht auf. Vlautins Bücher und Songtexte sind von John Steinbeck und Raymond Carver beeinflusst, die auch keine «working class heroes» waren, sondern begnadete Absolventen von Creative-Writing-Studiengängen.
Die Tragik von drei Generationen
Als Songschreiber hat Willy Vlautin von Vorbildern wie Springsteen gelernt, Geschichten mit sehr wenigen Worten und in einem mitreissenden Sprachrhythmus zu erzählen, den Nikolaus Hansen erstaunlich kongenial ins Deutsche übertragen hat. In wenigen Sätzen bringt Vlautin in «Ein feiner Typ» die Tragik gleich dreier Generationen auf den Punkt, wenn er den Wendepunkt in der Kindheit seiner Hauptfigur Horace Hopper beschreibt, den seine Mutter in der Tiefe der Provinz im Norden von Nevada im Stich lässt.
Das liest sich dann ein wenig wie die Strophe eines Countrysongs: «Er erinnerte bloss noch, dass er, als sie schliesslich in Tonopah ankamen, im Stage Stop Café bestellen durfte, was er wollte. Milchshakes waren sonst tabu, aber diesmal bestellte sie ihm einen und er bekam French Toast und Speck zu Mittag. Tränen über Tränen, während sie seine Sachen ausluden und in ein kleines Zimmer hinter der Küche in Grossmutters Haus brachten, Tränen, als sie im Senior Thrift Shop eine Matratze und ein Boxspringbett kauften, und noch mehr Tränen, als sie ihn in den Arm nahm und küsste und bei einer Grossmutter liess, die ab elf Uhr morgens ununterbrochen Coors Light mit Eis trank, bis sie abends um neun auf dem Sofa einschlief, die Kette rauchte, die nur Tiefkühlgerichte ass und die Angst vor Indianern, Schwarzen und Mexikanern hatte.»
Als Mexikaner verkleidet
Dieses zutiefst amerikanische Verlorenheitsgefühl zieht sich wie ein roter Faden durch Vlautins Romane und Songs und macht seine Figuren zu Archetypen weit jenseits der Tagespolitik. Wie Horace Hopper. Seine Mutter ist eine verarmte Weisse, sein Vater ein Paiute, Angehöriger eines Ureinwohnerstamms aus Arizona, den die Nachbarstämme abfällig «Schlangenvolk» oder «Fliegenlarven-Fresser» nannten.
«Ein feiner Typ» spielt in Horaces 21. Lebensjahr. Zu Beginn des Romans arbeitet er noch in Nevada auf der Ranch von Eldon Reese und seiner Frau, die ihn als Pflegeeltern zu sich holten und ihm eigentlich ihr karges Anwesen vermachen wollen. Horace hat andere Pläne. Preisboxer will er werden, Weltmeister. Und weil es in diesem Sport keine Indianer gibt, denen er nacheifern könnte, er aber mit seinen pechschwarzen Haaren und der bronzefarbenen Haut auch als Mexikaner durchgehen könnte, zieht er als «Hector Hidalgo» nach Tucson, Arizona. Er zieht sich wie ein Mexikaner an, zwingt sich, scharfes mexikanisches Essen zu essen, und nimmt sich einen mexikanischen Trainer, den er von seinem Lohn für einen Job in einer Reifenwerkstatt bezahlt.
Es läuft dann gar nicht so schlecht. Horace gewinnt einige jener berüchtigten Vorkämpfe, in denen die zweite und dritte Riege des Boxgeschäfts verheizt wird. Mit grossem Gespür für die Tristesse der amerikanische Provinz, die in Filmen oft so romantisch wirkt, beschreibt Vlautin die Mehrzweckhallen in Arizona, in denen es nach Reinigungsmittel und Fast Food riecht, ebenso präzise wie zu Beginn des Romans die Schafweiden im Gebirge Nevadas.
Vlautins Romane sind viel zu zeitlos, um als Kommentare auf irgendeine politische Gegenwart herhalten zu können.
Horace gewinnt sogar eine regionale Meisterschaft. Sein Kampfstil allerdings ist Tragik und Metapher zugleich. Er kann nämlich einstecken wie nur wenige. Das muss er auch, um seine Gegner so zu ermüden, bis er die Lücken findet, durch die er mit seinen harten, zerstörerischen Schlägen den K. o. erzwingen kann. Als Aussenseiter hätte er bei den Ringrichtern nach Punkten keine Chance. Ein paar Hundert Dollar bekommt er dann, oder auch mal ein paar Tausend. Hungerpreisgelder. Und die Siege fordern Tribut. Gebrochene Rippen und Nasen, Leib- und Kopfschmerzen.
Auch die Randfiguren, denen Horace begegnet, sind solche Geschlagenen. Die junge Mutter, die auf der Busfahrt nach Tucson an einem Truck Stop strandet, der obdachlose Paiute, der von seinem bürgerlichen Vorleben mit Familie und Dienstwagen erzählt, die Gegner, die so siegesgewiss in den Ring steigen wie er selbst, weil man sonst kein Boxer sein kann. Es sind flüchtige Bekanntschaften, und doch Mitbewohner eines Südwestens, in dem der majestätische Himmel und das goldene Licht nicht über die Verzweiflung in den kargen Landschaften und vermeintlichen Traumstädten hinwegtäuschen können.
Ähnlich wie die Songs von Bruce Springsteen ist «Ein feiner Typ» viel zu zeitlos, um sich als Kommentar auf irgendeine politische Gegenwart lesen zu lassen. Mal davon abgesehen, dass Vlautins Figuren Welten entfernt von politischen Realitäten existieren. Sie haben selten richtige Wohnsitze, keine Existenzen, die sie verteidigen könnten. Doch genau das macht Willy Vlautins Romane zur grossen Gegenwartsliteratur aus einem Amerika, das exotisch und fremd wirkt und doch eine Wirklichkeit beschreibt, die sehr viel mehr Menschen dort leben, als es Filme, Romane und politische Debatten oft zu erkennen geben. Man muss diese Wirklichkeit nicht mit der vollen Wucht erlitten und erlebt haben, um sie mit solcher Kraft zu beschreiben.
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