Ein Mann, ein Wort
Der Berner Journalist Andreas Dietrich (52) war ein brillanter, umstrittener «Bund»-Reporter, als vor 30 Jahren die Reitschule eröffnet wurde. Seit einer Woche ist Dietrich «Blick»-Chefredaktor – und die Reitschule beschäftigt ihn immer noch.
Ein falsches Wort, und um den Journalisten Andreas Dietrich wäre es vor 30 Jahren wohl schnell geschehen gewesen.
Er war unverschämt jung für einen Redaktor «an» der Tageszeitung «Der Bund» – wie man damals noch zu sagen pflegte. Dessen Redaktion ruhte in den 1980er-Jahren wie eine felsenfeste Berner Bastion für gesetzte Schreibe im Sandsteinhaus an der Effingerstrasse, stets in staatstragendem Kontakt mit bürgerlichen Regierungs- und Gemeinderäten.
Der gut 20-jährige Andreas, Sohn von Franz Dietrich, Direktor des Hotelier-Vereins und Berner CVP-Nationalrat, schaute eher von links auf die Welt. Er hatte die Matur des «roten» Gymers Köniz im Sack und ein paar vertrocknete Semester an der Universität hinter sich, als ihn der Journalismus packte.
Oder umgekehrt. Der junge Dietrich, aufgewachsen in Gümligen und Wabern, blickte stets mit leicht verkniffenen Augen durch seine Brille und lächelte schief.
Doch was er schrieb, sass.
«Aus dem wird etwas»
Zusammen mit der Berner Reporterlegende Walter Däpp, einem seiner Vorbilder, stand Dietrich 1987 im tränengasvernebelten Gummigeschosshagel der Zaffaraya-Räumung, schrieb darüber und rieb sich mit Verve an der offenen Verachtung einiger altgedienter Redaktionskollegen. Er sei schon jung sehr selbstbewusst gewesen, erinnert sich ein damaliger «Bund»-Kollege. Man habe, ob man ihn mochte oder nicht, gespürt: Aus dem jungen Dietrich wird mal etwas.
Jungspund Dietrich gehörte zu denen, die für ein paar spektakuläre Momente der jüngeren Stadtberner Geschichte Worte fanden. Er war etwa 1989 als Lokalreporter dabei, als der saudische Waffenhändler Adnan Kashoggi, verwickelt in den Skandal um Bundesratsgatte Hans W. Kopp, im Schweizerhof verhaftet wurde – vom jungen Untersuchungsrichter Alexander Tschäppät, der erstmals das nationale Rampenlicht betrat.
Der unverfrorene Dietrich schrieb dem bürgerlichen Establishment ins Gewissen.
Vor allem aber formulierte Dietrich im freisinnigen «Bund» Beiträge zur «Entwirrung des gordischen Knotens Reitschule», wie er es nannte. Die Berner Elite erschauderte beim Stichwort Reitschule, die damals geschlossen vor sich hin lotterte. Aber der unverfrorene Dietrich schrieb dem bürgerlichen Establishment ins Gewissen, die alternative Berner Kulturszene, die sich gerade zur Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule zusammengeschlossen hatte, endlich ernst zu nehmen.
Als die Reitschule an Weihnachten 1987 probehalber wieder eröffnet wurde, kommentierte Dietrich mit einer gewissen Euphorie, endlich könne die alternative 80er-Bewegung «auf friedfertige und originelle Art zeigen, um was es ihr geht». Wobei er schon anmerkte, der «militant und zum Teil gewaltsam ausgeübte Druck der Strasse» dürfe keineswegs verherrlicht werden.
Toblerone statt Reitschule
1988 war Dietrich Protagonist einer der skurrilsten Auseinandersetzungen der städtischen Politik, wie man sie sich heute kaum mehr vorstellen kann.
Die Affäre entzündete sich an Theres Giger, die gleichzeitig aktive FDP-Stadtpolitikerin und «Bund»-Kantonsredaktorin war. Als Giger zur Stadtratspräsidentin gewählt wurde, war das für den rechten Exzentriker Edgar Zaugg von der Nationalen Aktion Anlass, aus dem Stadtparlament zurückzutreten. Seine Begründung: Er könne nicht in einem Rat sitzen, der von einer Redaktionskollegin des «Hetzers» und «Verdrehers» Andreas Dietrich geleitet werde.
Dietrich hatte sich mit Zaugg angelegt, weil dieser per Volksinitiative erreichen wollte, dass auf der Schützenmatte anstelle der Reitschule ein Tobleronedenkmal errichtet wird. Journalist Dietrich klagte die verleumderischen Bemerkungen des Rechtspolitikers ein und bekam vor Gericht recht.
Gebremst vom Schicksal
Man könnte sagen: Der freche Formulierer Dietrich trug dazu bei, dass der obrigkeitsgläubige Berner Lokaljournalismus zupackender und zur saftigen Kampfzone wurde, die Berns Aufbruch aus der bleiernen Zeit der 80er-Jahre mitprägte. Nach gut 5 Jahren «Bund» brach Dietrich selber auf.
1990 gründete er, unter anderen mit dem heutigen Kabarettisten Bänz Friedli, das Berner Pressebüro Puncto, aber die angepeilte Destination war Zürich. 1993 wechselte er zum neu lancierten Wochenmagazin «Facts».
Als er 2004 erstmals seit Jahren wieder einen längeren Text publizierte, wurde dieser gleich für den renommierten deutschen Henri-Nannen-Preis nominiert.
Dort bremste den getriebenen Schreiber das Schicksal. Kurz nach der Geburt ihres Kindes starb seine Frau. Dietrich hatte keine Kraft und Konzentration mehr zum Schreiben, wie er sagt. Er verlegte sich aufs Produzieren und Konzeptionieren und verwendete seine Energie darauf, sein Familienleben zu bewältigen.
Als er 2004 erstmals seit Jahren wieder einen längeren Text publizierte über einen Kleinkriminellen für das «NZZ Folio», wurde dieser gleich für den renommierten deutschen Henri-Nannen-Preis nominiert.
Erfolgreicher Drehbuchautor
Andreas Dietrich sei einer, dem immer der absolut beste Titel einfalle, scharf, direkt, lebendig. Ihm gehe aber mitunter auch die Geduld ab, wenn jemand nicht mit ihm mithalten könne, sagt ein langjähriger Arbeitskollege. Dietrichs seltene, polyvalente Brillanz als Texter, Konzepter und Produzent trieb ihn etwa zur «Weltwoche», deren heutige Erscheinungsform als Wochenmagazin er miterfand, aber auch zu Langtextformaten wie dem «Magazin» und «NZZ Folio».
Zwischendurch reüssierte er sogar als Co-Drehbuchautor. In Zusammenarbeit mit den Berner Regisseuren Peter Guyer und Norbert Wiedmer realisierte er den Film «Sounds and Silence» über den Musikproduzenten Manfred Eicher, der 2009 den Berner Filmpreis gewann.
Boulevard schon am «Bund»
Man kann sich fragen, was der kreative Ausdauerathlet Dietrich, einst ein junger, aufbegehrender Linker, im kurzatmigen, mitunter kleinbürgerlichen Boulevard des «Blicks» verloren hat.
«Das hat schon seine innere Logik», sagt er selber. Im Prinzip habe er schon am «Bund» Boulevard gemacht, denn er verstehe das Boulevardmetier in erster Linie als Anspruch, nicht elitär zu sein. «Ich bin Sprachhandwerker. Ich konzentriere mich darauf, das richtige Wort zu finden, egal, ob die Texte kurz oder lang sind. Ich will, dass alle verstehen, was ich schreibe», sagt Dietrich.
Sogar der türkische Präsident Erdogan, der sich kürzlich öffentlich über den «Blick» aufregte. Dietrich hatte zusammen mit dem Verantwortlichen der «Blick»-Gruppe, Christian Dorer, auf der Titelseite einen zweisprachigen offenen Brief an die Türken in der Schweiz geschrieben.
«Der AufregerReitschule dient allen in Bern. Ein Schulbeispiel für politische Problembewirtschaftung.»
An dieser Ambition zum journalistischen Präzisionshandwerker habe sich gar nichts geändert, wenn er jetzt auf dem per se wackligen Sitz des «Blick»-Chefredaktors sitze. Und er versteckt nicht, dass ihm am Boulevard auch die Tatsache gefalle, etwas bewirken zu können. Was der «Blick» schreibe, bleibe oft nicht folgenlos.
Wenn «Bern brennt», rückt Andreas Dietrich die Reitschule auf die «Blick»-Titelseite. «Die Reitschule begleitet mich, seit ich schreibe», sagt er. Es sei für ihn schlicht unglaublich, dass die Berner Politiker diese Problemzone nicht in den Griff kriegten.
Ein Grund sei wohl der, dass die Söhne und Töchter des heutigen, rot-grünen Berner Establishments vor der Reitschule verkehrten. Aber die Reitschule bleibe auch eines der ganz wenigen Dossiers, mit dem die Opposition die linke Mehrheit piesacken könne. «Der Aufreger Reitschule dient allen in Bern», sagt Dietrich, «ein Schulbeispiel für politische Problembewirtschaftung.» Sitzt.
Ein Mann, ein Wort.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch