Ein herzlicher Sommer mit Züri West
«Die Schweiz hatte ein Hoch, und wir lieferten den Soundtrack dazu», sagt Kuno Lauener. 1994 erlebte Züri West einen Sommer der Superlative.

Erst schaute sich das fussballbegeisterte Quintett am Fernsehen die Spiele von der WM in den USA an, wo die Schweizer Nati erstmals seit langem wieder mitspielte – und das erst noch mit beachtlichen Resultaten. Dann fuhr man gemeinsam ans Konzert. «Wir hatten dieses Unsterblichkeitsgefühl», erinnert sich Lauener an jene Tournee, der er sich hingab wie einem Rausch. «Ich bin ja nicht wirklich der Entertainer, auch wenn ich daran arbeite. Aber diese Tour fiel mir leicht. Überall war ausverkauft, und das Publikum kreischte während des ganzen Konzerts und sang bei sämtlichen Songs mit – auch bei denen, die man nun wirklich nicht mitsingen kann. Wo wir auch hinkamen, hat man uns flattiert. Mir gefiel das: Von allen geliebt zu werden und plötzlich das Gefühl zu haben, es stelle niemand mehr etwas in Frage. Keiner beklagte sich mehr über mein Genuschel und darüber, dass man die Texte nicht verstehe.»
Schuld an der Euphorie war eine in Gelb gehüllte CD mit orangem Schriftzug und einem blauen Teppichornament. Das schlichte Design passte perfekt zum titellosen Werk – dem sechsten Album der Band, die 1994 bereits zehn Jahre bestand und die Schweiz längst erobert hatte. Bis dahin war Züri West eine Szeneband mit «Street-Credibility» gewesen, die sie sich an zahllosen Konzerten an alternativen Treffpunkten und mit den clever vertonten Storys des Szenegängers und Einzelkämpfers Lauener erspielt hatte. «Wir waren die coolste der Bands, die uncool waren, weil sie berndeutsch sangen», meint Lauener. «Diese Scheibe und vor allem der ‹Härz›-Song haben uns ein Publikum erschlossen, das» – er zögert und lacht dann – «das wir uns eigentlich nicht gewünscht haben. Plötzlich kannte uns jeder.» Letzteres lag an einem federnden Beat, einer einprägsamen Gitarrenmelodie und einem Refrain: «I schänke dir mis Härz, meh han i nid, du chasch es ha, we de wosch, es isch es guets, und es git no mängi, wo's würd näh, aber dir würd i's gä». Es war, als würde sich die ganze Schweiz zu diesen paar Zeilen in die Arme schliessen, als finde der Summer of Love 1994 noch einmal statt. «Laueners Liebeserklärung ist zugleich kitschig, romantisch, ironisch, verlegen und arrogant – Rocklyrik pur», erkannte der Rezensent der «SonntagsZeitung», der gleichzeitig auch die «stocknüchterne» Musik beklagte – allerdings kommentierte auch er nur den Refrain. Dabei wäre der Kontrast zum Rest des Lieds, das in einem Cabaret spielt, wo Sex verkauft wird und der Alkohol in Strömen fliesst, besonders interessant gewesen: «Eigentlich ist ‹I schänke dir mis Härz› ja eine himmeltraurige Story, die aber offenbar doch etwas Rührendes an sich hat und Beschützerinstinkte weckt – und wie alle grossen Rocksongs missverstanden wird», schmunzelt Lauener und verweist auf Bruce Springsteens «Born in the U.S.A.».
Inspiriert worden war «I schänke dir mis Härz» von einer Skizze des Malers Andreas dal Cero, die Lauener in Barcelona entdeckt hatte und deren Bildsprache und Titel «No tengo mas» («Mehr habe ich nicht») ihm den Refrain eingaben. «So eine Frontalaussage hatte es bisher bei mir nicht gegeben», sinniert Lauener. «Wir kamen ja aus einer anderen Zeit, einer anderen Szene. In unseren Anfängen hätten wir das Lied wohl ‹Hrz!› getauft. Oder sonst einfach so, dass sicher niemand etwas verstanden hätte. Dass man jetzt auch bei Züri West den Refrain mitsingen konnte, das war vielleicht das Erfolgsrezept.» Der Text sei in einer halben Stunde zu Papier gebracht worden, sagt sein Autor, der sich selber als «extrem detailversessen» bezeichnet. «Der Stundenlohn war im Nachhinein betrachtet ausgesprochen gut.»
Tatsächlich: Das «Züri West»-Album mit «I schänke dir mis Härz» stand vierzehn Wochen an der Hitparadenspitze, bis heute wurden rund 190000 Kopien abgesetzt – ein Vielfaches von dem, was die Konkurrenz damals verkaufte. Man hörte dem Album die «Positive Vibrations» an, unter denen es entstanden war. «Ich bin ein sehr atmosphärischer Typ», sagt Lauener, «und wenn die Zeit groovt, fange ich das ein.» Der neu rekrutierte Schlagzeuger Gert Stäuble, der von den abgestürzten Überfliegern Central Services kam und laut Lauener mit Mundartrock nicht allzu viel am Hut hatte, ölte die alte Maschine Züri West neu und verbreitete mit seiner forschen Art eine Nervosität, die die anderen Musiker anstachelte. Ausserdem stand der Drummer auf Hip-Hop-Beats, die das Album mitprägten. Lauener spricht offen von Crossover-Einflüssen und den damals angesagten Acts wie Beck, Beastie Boys, G. Love oder Atomic Swing, die die Berner beeinflussten. «Es herrschte eine Aufbruchstimmung, es war mehr und anderes möglich», erinnert er sich. «Auch ein Hidden Track mit einer Nonsensversion von Radioheads ‹Creep› oder eine jazzige Hommage an Charles Mingus.» Und doch meldete sich am Schluss der alte Zweiflergeist wieder, für den Züri West bekannt sind. «Wir waren mit dem fertigen Produkt nicht zufrieden, wollten es zuerst gar nicht veröffentlichen», sagt Lauener.
Für Züri West war das «Gelbe Album», wie die Fans das unbetitelte Werk respektvoll tauften, ein Wendepunkt. «Um es im Fussballjargon zu sagen: Wir waren Meister geworden und mussten den Titel nun verteidigen und uns bestätigen», sagt Lauener. Und der Sänger realisierte, dass er nun immer häufiger alleine «ganz vorne» stand. «Je mehr ich den Erfolg den anderen zuschreiben wollte, desto mehr fokussierten die Medien auf mich.» Dass man ihn als «Sexsymbol der Nation» und «James Dean der Schweiz» abfeierte, nahm Lauener im Höhenflug der neuen CD einfach mit. Doch später machte ihm die Fokussierung auf seine Person zu schaffen. «Es kamen Leute, die mich warnten», erzählt er. «So ein Hit sei eine schwere Hypothek. Für mich ist ‹Härz› immer noch viel mehr cooler Song als Hypothek, aber ich merkte schon, das die Ausgangslage sich geändert hatte, dass alles an diesem einen Lied gemessen wurde.» Ihr nächstes Album produzierte Züri West bei frostigen Wintertemperaturen in einem nüchternen Kellerstudio im fernen Philadelphia – der Kontrast zur frischen Sommerbrise des «Gelben Albums» hätte nicht grösser sein können. «Hoover Jam» verstörte die neuen Fans, weil es zwar interessante Songs und Arrangements, aber keinen Hit zu bieten hatte. Seither ist die Band ihrer Platte-Tournee-Pause-Routine treu geblieben. «Alle unsere Platten verkauften sich etwa gleich gut – mit Ausnahme des ‹Gelben Albums›», grinst Lauener.
Zurzeit ist Züri West nicht aktiv. Lauener tüftelt in seinem Heimstudio in Bern West an neuen Demos. «Ich bin gern auch der Mann hinter der Kulissen», sagt er, «und übernehme bei der Lancierung eines Albums viele Aufgaben, von der Grafik bis zur Promo.» Ins Rampenlicht zieht es Lauener ohne seine Band nicht. «Man muss auch Ruhe geben können», sagt der Sänger, in dem viele den Prototyp des coolen Frontmanns sehen. «Um es in der Filmsprache zu sagen: Ich bin lieber Regisseur als Schauspieler.»
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