Birgit Kempkers «Repère»Ein Buch wider die Mechanismen der Massentauglichkeit
Birgit Kempker ist eine unkonventionelle Stimme der Gegenwartsliteratur. Ihr Film-Essay «Repère» spielt mit der Unterscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefgang.

Am Anfang ist eine Kamera; und sie wackelt. Im Dunkeln tastet sie sich durch ein Treppenhaus und erfasst irritierende Lichtpunkte, bevor sie einen Haufen Plunder in den Fokus nimmt. Später fährt ein Zug vorbei, Landstriche verwischen vor dem Fenster, und Textfragmente werden kurz eingeblendet: «in der tiefe ist alles unfall», erscheint in konsequenter Kleinschreibung auf dem Bildschirm, bevor die Schrift wieder verblasst, «treib gut».
Von diesen und weiteren Szenen des Flüchtigen handelt Birgit Kempkers Film-Essay «Repère», den die Autorin, Künstlerin und Dozentin zusammen mit ihrem Sohn Anatol 2009 realisiert hat. «‹Repère› ist eine filmische Erinnerung an das Gesuchte. […] Ein inständiger Essay über die Art, wie sich Bilder selber suchen und bilden, wackeln, rutschen, sich verschieben», so ihr langjähriger Freund und Verleger Urs Engeler auf seiner Website.
Gegen die Trends des Buchmarkts
Der Begriff «Essay» ist dabei im Wortsinn zu verstehen und steht programmatisch für das Schaffen der mehrfachbegabten Autorin. Sie nähert sich dem Gesuchten über den «Versuch» an und fahndet nach experimentellen Formen, in denen es möglich wird, Sprache, Klang, (bewegte) Bilder und Performances produktive Allianzen eingehen zu lassen.
Einer solchen Form entspricht jedes der im Engeler-Verlag herausgegebenen «Repère-Originalbücher». Anstatt den Trends des absatzorientierten, zeitgenössischen Buchmarkts zu folgen oder auf die Möglichkeiten serieller Produktion zurückzugreifen, stellen sich die kempkerschen Originalbücher gegen die Mechanismen der Massentauglichkeit. Jedes Buch ist ein Unikat, jedes ist verschieden und jedes kostet stattliche 79 Franken.
Gemacht sind die Bücher aus dem entkernten Einband eines antiquarischen Buchs, den Birgit Kempker künstlerisch bearbeitet und handschriftlich mit dem Titel «Repère» versehen hat. Darunter verbirgt sich eine DVD-Hülle in der Ästhetik einer evolutionären Ursuppe. Ein chimärenartiger Fisch schwimmt auf der Frontseite, und ein Bullauge verschwimmt im Hintergrund neben farbigen Schlieren. In dieser doppelten Hülle liegt dann der eigentliche Datenträger, eine DVD mit überdimensionierten Glubschaugen, die einem entgegenstarren. Die entfremdete, antiquarische Buchhülle trifft auf den jüngeren, filmischen Inhalt und stellt in diesem kuriosen Zusammenschluss sowohl die eigene Gemachtheit als auch ein ästhetisches Konzept aus.
Witzvolle Miniaturen
Was böse Zungen Birgit Kempkers «Repère» als Willkür, Kindlichkeit oder Eklektizismus ankreiden könnten, dröselt sich in ein Gegensatzpaar zwischen oberflächlicher Künstlichkeit und ästhetischem Tiefgang auf; ein pointiertes Over-the-Top. Die intensive konzeptionelle Arbeit hinter der Linse vergegenwärtigen zudem die im Schweizerischen Literaturarchiv überlieferten Regiebücher, in denen die Einzelszenen des Films bis auf die Sekunde genau abgeleitet werden.
Blickt man dort noch etwas tiefer hinein, finden sich in den Zwischenräumen der vielen Zahlentabellen immer wieder humorvolle Miniaturen. Mit ihnen bricht Birgit Kempker die Härte ihrer Werkskizze auf und lässt einen gestalterischen Prozess sichtbar werden, der sich selbst kommentiert, zuweilen ironisiert und schliesslich so wie «Repère» einen ungeahnten Tiefgang entwickelt.
Das Schweizerische Literaturarchiv präsentiert monatlich Trouvaillen aus den Beständen.
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