Ein altes Herz, das kraftvoll schlägt
Entgegen einem verbreiteten Selbstbild lieben wir es in der Schweiz gross. Das Land erlebt eine Eventifizierung. Je mehr Menschen an einem Anlass dabei sind, desto grösser ist das Bedauern derer, die nicht dabei sein konnten.
In Dörfern, in denen übers Jahr kaum jemand eine Bar aufsucht, sind Barfestivals sehr gut besucht. In Orten, in denen Kinobetreiber über rückläufige Besucherzahlen klagen, zieht das Open-Air-Kino Sommer für Sommer die Massen an.
Das Phänomen lässt sich in beinahe allen Lebensbereichen beobachten. Von der Street-Parade über zahllose Street-Food-Festivals, Beach-Volley-Turniere in Innenstädten, Flugshows, Schwingfesten, Stadionkonzerten oder Stadtmarathonläufen, im ganzen Land grassiert das Eventfieber.
Je grösser der Anlass, desto grösser die Begeisterung.Dass dieser Trend auch einem traditionellen Grossereignis wie dem 30. Eidgenössischen Jodlerfest entgegenkommt, überrascht nicht. So müssen wir uns auch nicht darüber wundern, dass sich am vergangenen Wochenende in Brig-Glis zu den ungefähr 11 000 aktiven Jodlerinnen und Jodlern noch an die 150 000 Festbesucher gesellten.
Die ganze Ortschaft war beschallt mit Gesang und Musik, geschmückt mit Fahnen und bevölkert von Trachtenträgern aller Regionen des Landes. Cafés und Restaurants, ja selbst Kebabbuden stellten Festbänke auf die Strassen, um sicherzugehen, dass keine Jodlerkehle trocken bleibt. Die Stimmung war farbenfroh, friedlich und familiär.
Ganz Brig-Glis war beschallt mit Gesang und Musik, geschmückt mit Fahnen und bevölkert von Trachtenträgern aller Regionen des Landes.
Déjà-vu bei den Details
Mit Jagdhornbläsern, Festansprachen, Fahnendelegationen, Jodelvorträgen und einem traditionellen Alpsegen war das Fest am Freitag im Stockalperhof eröffnet worden. Während dreier Tage wurde gejodelt, gegessen, getrunken und gefeiert.
Brauchtum sei längst nicht mehr bünzlig, war in der Sonntagspresse zu lesen. Und tatsächlich präsentierte sich Brig-Glis am Wochenende auf den ersten Blick gar nicht so anders als andere Events im Land.
Die Menschen freuen sich über das Zusammensein. Sie cremen sich tüchtig mit Sonnenschutz ein. Sie filmen und fotografieren sich gegenseitig mit den Smartphones, um sicherzugehen, dass das Erlebte auch wirklich wahr ist, und sie versichern sich immer wieder, dass es sich lohnt, dabei zu sein.
Es sind zunächst nicht einmal unbedingt die Jodellieder, die Trachten, die Alphornbläser oder Fahnenschwinger, die dem Besucher das sichere Gefühl geben, an einem typischen Schweizer Event mitzumachen. Der Déjà-vu-Effekt stellt sich bei den Details ein.
Der Festpin, der den Festbesuchern unmittelbar nach der Ankunft im Bahnhof verkauft wird, mahnt an eine Fasnachtsplakette. Die Strohhüte mit dem Firmenlogo eines Hauptsponsors erinnern an die Eröffnungsfeier des Gotthard-Basistunnels im letzten Frühsommer.
Die grossen Sammelbehälter für Abfall kennen wir von den Open-Air-Rockkonzerten. Die vereinzelten Schläfer, die sich am frühen Morgen auf Parkbänken oder unter Bäumen von den Strapazen einer langen Nacht erholen, gehören längst zum Lokalkolorit jedes Sommerevents.
Am Sonntag ist das Eidgenössische Jodlerfest in Brig mit einem Umzug zu Ende gegangen. Rund 60 Formationen zogen durch den Ort. Video: sda
Und die angelsächsisch angehauchte Werbesprache, die jeden Milchstand «Swiss Milk» und eine Kleiderlinie «Edelweisstrend» heissen lässt, hat etwas Lieblich-Provinzielles. Dass die T-Shirts der Helferinnen und Helfer nicht mit dem üblichen Begriff «Staff», sondern mit dem schweizerdeutschen Wort «Chrampfer» angeschrieben sind, mag dem Anlass einen zusätzlichen Schuss Swissness verleihen.
Doch die Baseballcaps, Surfershorts und Flipflops, die manche der «Chrampfer» zum offiziellen T-Shirt tragen, verweisen bereits wieder auf allgemeine Eventkultur. Eigenartigerweise verstärken sogar die österreichischen Alpenschlager, die da und dort aus den Boxen der Verpflegungsstände dudeln, die Empfindung vollkommen helvetischer Festivalnormalität.
Selbst darüber, dass auf einer Wirtshaustafel «Jodlerspezialitäten» wie «Roastbeef garniert» oder «Weinspaghetti» angepriesen werden, scheint sich niemand zu wundern. Der starke Magen der Feststimmung vermag offenbar einiges zu verdauen.
Ein Herz aus Stein?
«So tönt das Herz der Schweiz» lautet das selbstbewusste Motto dieses 30. Eidgenössischen Jodlerfests in bergiger Kulisse. Das mag durchaus wahr sein, denn jeder Kardiologe wird uns bestätigen können, dass bei vielen alten Herzen die Herztöne vielfältig und rhythmisch schwer fassbar sind.
Während der drei Festtage, an denen in zwölf Lokalen in Brig-Glis und Naters insgesamt 1478 Jodelvorträge stattfinden, werden auch in Beizen und auf Plätzen immer wieder spontan Lieder angestimmt. Anders als bei den offiziellen Vorträgen, die von einem Kampfgericht streng benotet werden, kann beim freien Jodeln auf der Gasse auch einmal ein Ton danebengehen.
Höchstens der Werbespruch der Walliser Tourismuspromotion Valais/Wallis vermag die innere Harmonie allenfalls ein wenig durcheinanderzubringen: «Wallis ins Herz gemeisselt» steht da in weissen Lettern auf rotem Grund. Da drängt sich fast zwangsläufig die Frage auf, ob ein Herz nicht aus Stein sein müsste, bevor man etwas hineinmeisseln kann.
Bedrohliche Biederkeit
Doch wie empfinden die Einheimischen die friedliche Belagerung ihrer kleinen Stadt? Ein bisschen fühle er sich von so viel Biederkeit bedroht, erklärt ein alter Briger auf Anfrage und deutet auf die Menschenmasse, die sich über die Bahnhofstrasse ergiesst. Jazz und Rock lägen ihm persönlich näher, sagt er lachend, aber er gönne jedem sein Pläsier.
Weniger Berührungsangst scheint das tamilische Mädchen zu haben, das begeistert mitzusingen beginnt, als es merkt, dass die Jodlergruppe auf der Treppe bei der UBS-Filiale ein Lied anstimmt, das es aus der Schule kennt. Unweit davon schaut ein japanischer Tourist neugierig in ein Alphorn, als suche er darin eine elektronische Apparatur, die es zum Klingen bringt.
Ein paar Gassen weiter wird Bundesrat und Kulturminister Alain Berset in viele kurze Gespräche verwickelt. Der Magistrat nimmt Grüsse für seine Mutter entgegen, die selbst aktive Alphornbläserin ist. Dann gönnt er sich vor dem Festumzug noch ein kleines Bier. Er möge solche Feste, betont der Bundesrat, weil sie verbindend seien.
Tatsächlich bringt das Jodeln, wie so manche kulturelle Äusserung der Schweiz, eine starke integrative Kraft zum Vorschein. In der Musik lösen sich geografische oder soziale Differenzen auf. Die Leute sind per Du und gehen aufeinander zu. Dieses Bedürfnis, wenigstens an Events zusammenzukommen und zusammenzugehören, wird durch die gesellschaftliche Individualisierung des Alltags bestimmt nicht kleiner.
In der Musik lösen sich geografische oder soziale Differenzen auf.
Die Menschen suchen ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Die meisten von ihnen gehen wohl davon aus, es sei die Tradition des Jodellieds, die sie verbindet. Dabei sind es vermutlich noch ganz andere Traditionen, die hier einigend wirken. Traditionen wie gesellschaftlicher Ausgleich, Kommunikation, gegenseitiges Zuhören oder Freundschaftspflege sind zeitloser, schweizerischer und echter als jeder Jodelliedtext.
Höhepunkt Festumzug
Einer der Höhepunkte des 30. Eidgenössischen Jodlerfests ist zweifellos der grosse Festumzug, mit dem der dreitätige Anlass abgeschlossen wird. Das Publikum freut sich über festlich herausgeputzte Kinder, winkende Ehrengäste, Blasmusikkapellen, Tambouren, Majoretten, Trachtengruppen, alte Traktoren und allerlei Vieh.
Und selbstverständlich auch über die Jodlerinnen und Jodler, die auf Wagen sitzend oder mitmarschierend noch einmal zeigen, was sie gesanglich draufhaben. Dass dieser Umzug, wie von den Veranstaltern versprochen, «altes Brauchtum und überhaupt das Wallis in seiner ganzen Vielfalt» darstellt, mag leicht übertrieben sein.
Sicher ist immerhin, dass der Festumzug den berechtigten Stolz derjenigen, die mitmachen, sicht- und nachvollziehbar macht.
Dass es am Sonntag nach einem regnerischen Morgen im Lauf des Tages immer heisser geworden ist und manche Umzugsteilnehmer arg ins Schwitzen geraten, scheint sie kühl zu lassen. Selbst dem zeitweiligen Dichtestress am Bahnhof beim Besteigen der Extrazüge Richtung Üsserschwiz begegnen sie mit jodelnder Gelassenheit.
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