
Es gilt die Unschuldsvermutung. Dieser Satz, den Zeitungen stets einschieben, wenn sie über eine Gerichtsverhandlung berichten, beleuchtet einen Grundpfeiler unseres Rechtsstaats: Nicht der Angeklagte muss seine Unschuld beweisen, vielmehr muss ihm seine Schuld nachgewiesen werden.
Der Satz und das Prinzip, für das er steht, gilt nicht mehr in der öffentlichen Paralleljustiz, die sich seit einigen Jahren etabliert hat, wenn es um Vergehen gegen die sexuelle Integrität geht. Da kann schon der Vorwurf der Belästigung, des Missbrauchs, der Vergewaltigung den sozialen Tod des Betroffenen herbeiführen. Selbst wenn ein Gericht die Unschuld festgestellt hat – und noch einmal: Wer nach einem korrekten Verfahren nicht verurteilt wurde, der hat als unschuldig zu gelten –, ist die Existenz manches Beschuldigten ruiniert.
So ist es Kevin Spacey ergangen, dem Star von «House of Cards». Obwohl nie verurteilt, wurde er aus der letzten Staffel herausgeschnitten. Das erinnert an die antike «damnatio memoriae»: Nichts von ihm soll in Erinnerung bleiben.
Anders als Spacey, gegen den Anschuldigungen von etlichen Seiten erhoben wurden, geht es im «Fall Woody Allen» um einen einzigen Anlass. Der Regisseur soll im Jahr 1992 seine Adoptivtochter Dylan, damals sieben Jahre alt, unsittlich berührt haben. Das wurde von Allens Partnerin Mia Farrow im Zuge eines hässlichen Sorgerechtsstreits behauptet, war damals Gegenstand etlicher Untersuchungen, medizinischer wie psychologischer Gutachten und endete mit dem Richterspruch, dass der Vorwurf nicht zu beweisen sei. Allen hat seither als unschuldig zu gelten, und nicht nur als Vermutung.
Erbärmliches Verhalten
Mia Farrow, Tochter Dylan und Sohn Ronan liessen in den folgenden Jahren indes nicht locker; Moses, ein anderer Sohn, verteidigte Allen. Seit 1992 sind keine neuen Fakten bekannt geworden. Wohl aber ist #MeToo passiert. Die Bewegung hat viel für den Schutz von Frauen erreicht. Aber sie hat, auch mithilfe des digitalen Prangers in den «sozialen» Medien, einen vor- und nebenjuristischen Raum geschaffen, in dem der Vorwurf das Urteil ersetzt, Ankläger und Richter in eins fallen. Dort gilt die Schuldvermutung.
Für viele ist Allen seither ein Sexgrüsel, von dem man sich fernzuhalten hat. Jungstars wie Timothée Chalamet distanzieren sich von seinem jüngsten Film, in dem sie doch so stolz waren, mitspielen zu dürfen. Erbärmlich.
Erbärmlich auch der Rückzug des US-Verlags Hachette. Der Protest von 70 Mitarbeitern und die öffentliche Stimmung bewogen ihn, von der Veröffentlichung der Memoiren Woody Allens zurückzutreten. Das ist ein Vertragsbruch aus Angst vor Umsatzeinbussen und Rufschaden (so wie der Vertrag in der Hoffnung auf Profit geschlossen wurde).
In Deutschland versuchen jetzt einige Rowohlt-Autoren (die besten sind es nicht), ihren Verlag von der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung abzubringen. «Wir haben keinen Grund, an den Aussagen von Dylan Farrow zu zweifeln», schreiben sie in einem offenen Brief. Das Gericht hatte diese Zweifel sehr wohl. In einer Atmosphäre, in der selbsternannte Moralisten sich über den Rechtsstaat erheben, ist kein Halten mehr. Rowohlt sollte dem Druck nicht nachgeben und Woody Allens Memoiren wie geplant am 7. April veröffentlichen. Dann kann sie lesen, wer es will – oder es lassen.
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Druckt die Woody-Allen-Memoiren!
Eine unangenehme Nebenwirkung der heilsamen #MeToo-Bewegung: Für manche Delikte braucht es keine rechtlichen Verfahren mehr. Es gilt die Schuldvermutung.