Drei magische Wörter tragen Boris Johnson durch den Wahlkampf
Reicht es bei den Wahlen am Donnerstag für eine Mehrheit? Nicht alles läuft für Boris Johnson nach Plan.

Kurz vor der Ziellinie ist er doch noch gekommen: der Stolperer von Boris Johnson. Dabei hatte sich der britische Premier und Favorit für die Wahlen am Donnerstag in den letzten Wochen so diszipliniert verhalten. Doch als ihn ein Reporter fragte, was er denn davon halte, dass ein vierjähriger Junge mit dem Verdacht auf Lungenentzündung im Zentralkrankenhaus von Leeds stundenlang auf dem Boden hatte liegen müssen, weil kein Bett verfügbar war, wollte Johnson davon schlicht nichts wissen. Die Bitte des Fragestellers, sich ein Foto des auf Mänteln abgelegten Kindes auf seinem Handy anzuschauen, lehnte der Premier ab: «Ich sehe mir das später an.»
Sprachs, schnappte sich das Handy und steckte es, damit er Ruhe hatte, in die eigene Tasche. Erst etwas später, als er das Gerät mit einer Entschuldigung wieder herausrückte, schien es ihm zu dämmern, was er da angerichtet hatte. Zu diesem Zeitpunkt klagte sein Kontrahent Jeremy Corbyn von Labour bereits in allen Medien, Johnson sei herzlos.
In der Tat verstärkte der kuriose Vorfall den Eindruck, dass Boris Johnson die Lage anderer wenig berührt – dass er vor den Folgen jahrelangen Sparens im öffentlichen Gesundheitswesen durch konservative Regierungen lieber die Augen verschliessen will. Ein gefühlloser Premier? Einer, der die Notlage seiner Mitbürger nicht ernst nimmt? In Panik entsandte die Konservative Partei den Gesundheitsminister nach Leeds, um vor Ort Mitleid zu bekunden und Hilfe zu versprechen. Aber der Schaden war angerichtet. Johnson gehe es nur um sich selbst und um die Macht in London, wetterten seine Gegner. Nicht um soziale Realitäten, um den Ernst der Lage im Land.
Nur ein Spiel?
Ob die Handy-Episode den Ausgang der britischen Wahlen noch beeinflussen wird, vermag niemand zu sagen. Bis zu diesem Moment sah sich Boris Johnson auf dem sicheren Weg zum Sieg. Die Episode stärkte aber wieder den Verdacht, den Johnson nie hat abschütteln können: nämlich dass Politik für ihn einfach ein Spiel ist, das es ihm erlaubt, sich in Szene zu setzen.
Und doch finden auch Wähler, die Johnson für einen Strolch halten, seine Form der Selbstdarstellung vergnüglicher als die spröde Art seines Kontrahenten Jeremy Corbyn. Mit seinen Sprüchen, seinem Augenrollen, seiner sorgsam verstrubbelten Mähne, der gespielten Tollpatschigkeit und allerlei privaten Geschichten weiss sich Johnson jederzeit im Interesse der Öffentlichkeit, während Corbyn wenig Unterhaltungswert hat.
Um «ihrem» Mann nicht allzu viel Gelegenheit zu Patzern zu geben, haben sich Johnsons Strategen bemüht, ihm ernstere Prüfungen zu ersparen. Mehrere TV-Debatten, darunter eine wichtige über Klimawandel, fanden ohne Johnson statt. Pressekonferenzen versuchte er zu meiden. Ein Interview mit dem gefürchteten BBC-Moderator Andrew Neil schlug er aus. Seine Gegner warfen ihm vor, sich nur davor drücken zu wollen, dass seine «Lügengeschichten» auf Herz und Nieren geprüft würden.
Viele finden Johnsons Form der Selbstdarstellung vergnüglicher als die spröde Art von Jeremy Corbyn.
Doch bis zur Handy-Episode konzentrierte sich Johnson – wie schon bei seiner Wahl zum Parteichef der Konservativen im Sommer – auch diesmal mit erstaunlicher Selbstbeherrschung auf das Konzept, das ihm seine Helfer vorgegeben hatten. Es hat sich im Wahlkampf als äusserst wirksam erwiesen.
Das gleiche Team, das schon 2016 die Brexit-Kampagne geleitet hatte, lieferte seinem Chef auch diesmal die zündende Idee. Bei der Brexit-Abstimmung hatte der Slogan «Take Back Control», holen wir uns die Kontrolle über unser Leben zurück, die Stimmung im Lande perfekt getroffen. Im Wahlkampf lauteten die drei magischen Wörter nun «Get Brexit Done», bringen wir den Brexit hinter uns.
Kein Tag verging, an dem Boris Johnson diese drei Wörter nicht dutzendfach wiederholt hätte. Keine Rede gab es, in die er sie nicht eingeflochten hätte, so oft es nur ging. «Get Brexit Done» wurde zur Losung seiner Regierung. Es war ein Spruch, der erneut haargenau die Stimmung im Lande traf.
Die positive Note
Denn die des Brexit-Gerangels müden Briten wollen nichts lieber, als dass das Thema von der Tagesordnung verschwindet und man sich nicht mehr mit dem leidigen EU-Austritt abplagen muss. Clever verband Johnson damit das Versprechen, die britische Politik wieder «in Fahrt» zu bekommen, Grossbritanniens «Potenzial zu entfesseln» und gezielt in Schulen, Spitäler und Polizei zu investieren. Das eine mit dem andern zu verbinden, die Umsetzung des Brexit zur Voraussetzung für einen anschliessenden Reformschub zu machen, erwies sich als genial – zumal Johnson nach neun Jahren konservativer Sparpolitik das «Ende der Austerität» einläutete und so «seinem» Brexit eine positive Note verlieh.
Viele seiner Landsleute überraschte die Disziplin, mit der Johnson sich an diese simple Strategie hielt: Her mit dem Brexit, Farewell Sparpolitik, Schluss mit der fatalen Lähmung Westminsters. Wählt die Zukunft, Leute. Wonderful Boris is here.
Die Umsetzung des Brexit zur Voraussetzung für einen anschliessenden Reformschub zu machen, erwies sich als genial.
Einen erfahrenen Beobachter, den Kommentator der «Financial Times» Robert Shrimsley, erinnerte die Entschlossenheit daran, wie Johnson einst einen kleinen Jungen beim Rugby buchstäblich überrannt hatte, um sich seines Sieges sicher zu sein. Ernst sei es Johnson nur bei einem, beim Gewinnen, so Shirmsley: «Dafür macht er alles, was gemacht werden muss.»
Nigel Farages Brexit-Partei vermochte Johnson auf diese Weise immerhin vollständig auszumanövrieren. Nun hofft er darauf, dass die Wähler über seinen «Fauxpas» hinwegsehen und beim Wählen am Donnerstag nicht zu fest ums Gesundheitswesen bangen. Und dass auch genügend Labour-Anhänger, die vom Brexit-Streit ebenfalls genug haben, ihm ihre Stimme geben.
Singapur an der Themse
Johnsons Siegeswille aber, darin sind sich die meisten seiner Kritiker einig, bedeutet nicht, dass er auch konkrete Vorstellungen hätte von dem, was er mit einer Mehrheit im Parlament anfangen würde. Nach einem Wahlsieg, post Brexit, begänne der ungewisse Teil des Wegs.
«Der Brexit hat ihm den Anschein von Führungskraft verliehen», drückt es Kommentator Shrimsley aus. «Der Brexit hat es ihm erlaubt, die radikale Kraft zu spielen für einen Wandel, wie ihn die Wähler wollen.» Aber zum Regieren, zur Umsetzung dieses Wandels, habe Johnson kaum die erforderliche Qualität.
Auf der britischen Linken befürchtet man indessen, dass es sehr wohl einen Johnson-Plan gibt – nämlich das ganze Land in eine Art «Singapur an der Themse», in einen Spielplatz des internationalen Kapitals, zu verwandeln. Hinter der Clownmaske, hat es ein Kritiker formuliert, stecke eine «todernste» Absicht.
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