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Runter mit der Windows-Flagge
Das neue Betriebssystem von Microsoft bietet radikale Neuerungen – mit dem eben vorgestellten Windows-8-Logo jedoch greift Microsoft auf das Design der 80er-Jahre zurück.
Microsoft-Experte Matthias Schüssler hat den Windows-7-Nachfolger unter die Lupe genommen. Sein Fazit: Kompliziert, revolutionär und halsbrecherisch.
Windows 8 wird voraussichtlich im Herbst erscheinen, wirft aber jetzt schon seine Schatten voraus. Die nächste Version des Betriebssystems wird Veränderungen bringen, die selbst das damals revolutionäre Windows 95 in den Schatten stellen.
Was zuerst auffällt ist die Kachelansicht à la Windows Phone, dem Smartphone-Betriebssystem aus Redmond. Einzug halten die Vollbild-Apps sowie Hot Corners als neues Bedienelement. Und es gibt ein neues Logo, dem der Schwung des alten Markenzeichens jedoch völlig abgeht.
Damit sich die Nutzer an die Neuerungen gewöhnen können, hat Microsoft eine Vorabversion zum Download zur Verfügung gestellt. Sie ist kostenlos und zeigt ein in Metamorphose begriffenes Produkt. Die Zukunft, so ist Microsoft überzeugt, ist mobil. Der Einsatz auf stationären Systemen wird zur Randerscheinung werden. Dieser Logik folgend wurde die sogenannte Customer Preview auch nicht an der bald stattfindenden Computermesse Cebit vorgestellt, sondern am Mobile World Congress in Barcelona.
Halsbrecherischer Spagat
Um Windows für mobile Geräte tauglich zu machen und gleichzeitig auf herkömmlichen Desktops und Laptop-Computern einsatzbereit zu bleiben, wagt Microsoft einen halsbrecherischen Spagat. Die alten, klassischen Anwendungen werden in eine Kachel namens Desktop verbannt. Die Steuerung per Multitouch wird noch vor der Maus zur primären Eingabemethode erhoben. Das System läuft auch auf stromsparenden ARM-Prozessoren, wobei dann nur die neuen Vollbild-Apps, nicht aber die klassischen Desktop-Anwendungen benutzt werden können (wahrscheinlich abgesehen von MS Office). Schliesslich sollen auch kommende Versionen des Betriebssystems für Smartphones auf Windows 8 basieren.
Windows-8-Tablets werden, so hat es Microsoft verlauten lassen, einige Hardware-Knöpfe voraussetzen, zum Beispiel eine Windows-Taste. Diese übernimmt die Funktion des Startknopfs, der wie erwähnt in der Taskleiste nicht mehr vorhanden ist. Drückt man auf der Tastatur die zweite Windows-Taste (rechts der Leertaste) erscheint das Startmenü.
Die Menütaste (auf Windows-Tastaturen zwischen rechter Windows- und «Ctrl»-Taste), die bisher das Kontextmenü anzeigte und bei vielen Benutzern wohl kaum je genutzt wurde, zeigt nun die Menüzeile der Apps, die am unteren Rand der App eingeblendet wird. Per Maus löst man diese Operationen aus, indem man den Mauszeiger in bestimmte Regionen, die sogenannten Hot Corners, bewegt: Die Ecke im linken unteren Bildschirmrand übernimmt die Funktion des Startknopfs.
Die Ecke rechts unten bringt die Leiste mit Funktionen wie «Teilen», «Suchen», «Geräte» (hier dürften dann auch die Drucker zu finden sein) und «Einstellungen» hervor. Um herunterzufahren, aktiviert man den rechten Hot Corner, klickt auf Einstellungen und dann auf «Ein/Aus». Das ist unglaublich kompliziert – auch wenn es bei dezidierter Windows-8-Hardware dann wahrscheinlich einfacher geht.
Während die erste Version von Windows 8 (die im September 2011 erschienene Developer Preview) noch keine fertigen Metro-Style-Apps bereitgehalten hatte, gibt es nun bei der Consumer Preview knapp zwei Dutzend Vollbildprogramme. Auch schon online ist der Store. Er funktioniert ähnlich wie der iTunes Store oder der Mac App Store, und er hält auch bereits eine Handvoll Apps in petto. Beispielsweise das unter iOS sehr populäre Spiel «Cut the Rope», das Bildbearbeitungsprogramm ImageFX von Ashampoo oder die Musizier-App «Grantophone». Die Installation erfolgt per Mausklick, ohne dass man ein Installationsprogramm zu Gesicht bekäme.
Das sind die wichtigsten Apps in der Consumer Preview
Highlights: Das Ende der Registry
Der Entscheid, ob man auf Windows 8 umsteigen sollte, wird nicht leicht fallen, wenn die fertige Version verfügbar sein wird. Zum einen bietet Microsoft überzeugende Neuerungen: Die Möglichkeit, sich über einen Bildcode anzumelden beispielsweise: Hier wählt man ein Bild und führt auf diesem einen Bewegungsablauf aus. Stimmt der Ablauf mit dem gespeicherten überein, erhält man Zugang zum System. Statt eines Passwortes merkt man sich beispielsweise: «Im Familienfoto erst Oma, dann den Grossonkel und dann dem Neffen aufs linke Auge tippen.»
Es ist nun auch möglich, eine Handynummer zu hinterlegen. Geht das Passwort vergessen, kann man sich einen Code aufs Mobiltelefon schicken lassen, über den man sein Benutzerkonto entsperrt. Und wie erwähnt, kann man seine Konfigurationsinformationen an ein Windows-Live-Konto knüpfen: Dies erlaubt es, vorhandene Konfigurationen auf einen neuen Rechner zu übertragen und wichtige Informationen wie die Kontakte aus der Cloud zu übertragen.
Windows 8 kann bei Problemen zurückgesetzt werden. Dazu dienen in den Einstellungen unter «Allgemein» die beiden Optionen «Frischen Sie den PC ohne Auswirkungen auf Ihre Daten auf» (das sollte in etwa einer Reparaturinstallation entsprechen) und «Auf Originaleinstellungen zurücksetzen und erneut beginnen» (das macht die Neuinstallation überflüssig). Das sind Funktionen, die Windows-Benutzer bisher schmerzlich vermissten, und die man noch so gerne sofort nutzen möchte. Die Metro-Style-Apps kommen ausserdem ohne Registry aus und speichern Zustände automatisch – wie man sich das von mobilen Anwendungen gewohnt ist. Willkommen ist auch der rasante Start des Betriebssystems.
Offene Fragen: Was wird aus Office unter ARM?
Die Entscheidung, ob man umsteigen will oder nicht, wird frühestens im Herbst anstehen, wenn die finale Version veröffentlicht ist. Bis dahin sollte Microsoft noch einige Fragen klären – beispielsweise die, ob auf WoA (Windows on ARM) im Desktop-Bereich tatsächlich nur die von Microsoft angepassten Programmversionen laufen – also namentlich Office 15, das in Windows 8 «integriert» sein soll – wobei Microsoft nicht geklärt hat, ob «integriert» heisst, dass die Software gratis mitgeliefert wird, oder ob es bedeutet, dass das Büropaket unter WoA «lauffähig» ist.
Fazit: Der Fortschritt bringt vielleicht nur Stagnation
Windows 8 bringt einige überzeugende Möglichkeiten: Die Konfiguration über die Cloud, sprich, ein Konto auf Live.com. Die Möglichkeit, das Benutzerpasswort über einen Code per SMS zurückzusetzen, falls es vergessen wurde – oder die Einbindung der Facebook-, Twitter- und Google-Mail-Adressen in die Kontakte-App. Das ist am Desktop genauso sinnvoll wie am Smartphone.
Doch trotz dieser Highlights hinterlässt ein erster Test mit der Customer Preview gemischte Gefühle. Einerseits geht Microsoft einen grossen Schritt in die Zukunft. Andererseits bleibt der Eindruck, dass Microsoft Unmögliches versucht: Mobilgeräte und herkömmliche Computer sind zwei verschiedene paar Stiefel. Sie mit einem System bedienen zu wollen, erfordert Kompromisse zu Lasten der Benutzerfreundlichkeit.
Das Prinzip «Touch first» – die Bedienung per Multitouch hat Vorrang vor der Maus – führt dazu, dass die Steuerung per Maus umständlicher wird und dem Nutzer einen grossen Lernaufwand und ein Umdenken abverlangen. Die Metro-Style-Anwendungen, die nur im Vollbild angezeigt werden können, wirken auf den grossen Monitoren eines Desktop-PCs fehl am Platz.
Und selbst wenn man vor allem mit klassischen Windows-Anwendungen in der «Desktop»-Kachel arbeitet, gelangt man mit jedem Klick in den «Start Hotspot» auf die Startseite im Metro-Style und damit in eine komplett andere Welt. Das ist ein Bruch in der «User Experience», der von vielen Anwendern nicht goutiert werden wird. Immerhin: Man kann seine wichtigen Programme auch weiterhin an die Taskleiste anheften. Wenn dort die wichtigen Programme angepinnt wurden, muss man die Startseite nur noch selten bemühen.
Apple macht die Sache geschickter: Die Software-Entwickler aus Cupertino führen bei ihrem Betriebssystem ebenfalls Konzepte aus der mobilen Welt ein, wie Mountain Lion jüngst wieder zeigte. Apple tut das aber dosiert über mehrere Versionen und nicht in einem einzigen grossen Schritt.
Microsoft zeigt der Welt mit der Consumer Preview, welche Schwierigkeiten das System auf herkömmlicher Hardware bereiten wird. Wie es sich auf Tablets schlägt, kann der Benutzer in Ermangelung passender Hardware allerdings noch gar nicht ausprobieren: Die breite Nutzerschar erlebt nun erst einmal die Nachteile, bevor sie überhaupt von den Vorteilen profitieren kann.
Das ist keine geschickte Strategie. Es ist abzusehen, dass die Besitzer klassischer PCs bei Windows 7 (oder allenfalls sogar bei Vista oder XP) bleiben werden – und Windows 8 daher keinen Fortschritt, sondern Stillstand bringt.
Der kleine Fisch, der nun den Desktop von Windows 8 ziert, wird bei den Nutzern klassischer PCs womöglich nicht abheben, sondern sang- und klanglos untergehen.
Die Testversion kann man hier herunterladen.
Der Download erfolgt als DVD-Abbild und muss mit einer passenden Software wie ImgBurn (www.imgburn.com) gebrannt werden. Die Installation darf nur auf Testsystemen erfolgen – für Rechner, die im produktiven Einsatz stehen, ist die Software noch nicht ausgereift!
Der Test in einer virtuellen Maschine wie VirtualBox soll möglich sein, stellt laut Microsoft aber nicht «die optimale Umgebung» dar. In unserem Test hat die Installation via VirtualBox jedoch nicht funktioniert.
Bernerzeitung.ch/Newsnetz
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