Berner LiteraturDieser Verlag geht unter die Haut
Ein Algorithmus bestimmt die Bücherfarbe, und die Tattoos des Inhabers gehören zum Konzept. Der Verlag «edition taberna kritika» ist ein Kunstwerk.

Drei Punkte, eingerahmt von einem schwarzen Quadrat, zieren den Unterarm von Hartmut Abendschein. Es ist ein visuelles Gedicht mit dem Titel «unsorted list» und Logo des Verlags «edition taberna kritika» (etkbooks), den der 50-jährige Berner vor zwölf Jahren gegründet hat.
Das Tattoo spiegelt Abendscheins Anspruch: Was zählt, ist das Konzept. Nicht nur die Bücher sind die eigentlichen Kunstwerke, auch der Verlag ist es, und da gehört Abendscheins Haut dazu. Jede Facette ist genau durchdacht und trägt eine Bedeutung.
Etwa das Farbkonzept. Fünf Bücher, davon eine Bibliographie, erscheinen pro Jahr, drei im Frühling, zwei im Herbst. Die Farbe ihrer Cover bestimmt ein Algorithmus, den Abendschein entwickelt hat. Jedem Buch weist er eine Farbe von Gerhard Richters Werk «192 Farben» zu. 30 Jahre könne er noch Bücher herausgeben, hat Abendschein ausgerechnet, danach sei das Farbkonzept vollendet.

Gewohnte Formate wie Romane oder Gedichte finden Leserinnen und Leser im Angebot von etkbooks selten. Experimentelle Literatur interessiert Hartmut Abendschein, «alles, was an den Rändern passiert». In einem Buch zum Beispiel wechselt die Farbe der Schrift, in einem anderen deren Dicke. Abendschein sieht Lücken im Programm: Zum Beispiel fehlt noch ein Text, bei dem einzelne Wörter ausgelöscht werden, wodurch dieser eine neue Bedeutung erlangt.
Ordnung ohne Hierarchie
Gedanken, wer solch obskure Bücher kaufen soll, macht sich Abendschein wenig: «Absatzzahlen spielen keine Rolle.» Diese Haltung kann er sich leisten, weil er eine Teilzeitanstellung in der Bibliothek der Universität Bern hat und als Schriftsteller arbeitet. In diesem Jahr hat ihm der Kanton Bern ein mit 20’000 Franken dotiertes Schreibstipendium verliehen.
Ein Weg, sich der eher sperrigen Konzeptwelt anzunähern, führt über die jährlich erscheinende «Annotierte Bibliographie». Verfügbar ist sie als PDF auf der Verlagswebsite oder gedruckt als schmales Büchlein. Die im letzten Verlagsjahr erschienenen Inhalte – Bücher sowie einzig digital publizierte Werke – füllen aber nur einen kleinen Teil. Herzstück sind die Ordnungselemente: Titel- und Personenindex, Schlagwortindex und Klassifikationscodes, wie sie Bibliotheken verwenden.
Mit dieser nüchternen Klassifikation will Abendschein verhindern, dass sein Verlag nach den gleichen Mustern funktioniert wie die konventionelle Buchbranche: über Autorinnennamen und Neuerscheinungen. «Niemand soll von einem Text aus dem Jahr 2012 denken, dass er seines Alters wegen nicht mehr aktuell sei. Es gibt keine Hierarchie unter den Werken.»
All die Schlagworte und Ordnungszahlen können überfordern. Wie soll man in dieser Informationsflut herausfinden, welches Buch man lesen will? Hartmut Abendschein rät, die Auswahl als Spiel zu betrachten. Aber natürlich könne man auch das Alphabet der Autorennamen als Richtschnur nehmen, oder sich von den hellen zu den dunklen Coverfarben lesen. Oder wer lieber mit den vertrauten Werkzeugen navigiert, kann auf der Website eine kurze Inhaltsangabe lesen.
Anonyme Texte
Ein weiterer Pfeiler von Abendscheins Konzept sind die Ausstellungen in seinem Kunstraum an der Monbijoustrasse. Ein Zimmer in Weiss, zwei Tische und vier Hocker, ein Büchergestell mit dem Gesamtwerk – und alle zwei Monate eine andere Ausstellung visueller Literatur.

Bis 23. August zu sehen ist «The Complete Dictionary» der HKB-Dozentin und Künstlerin Tine Melzer. Eine Enzyklopädie aller möglichen Wörter mit bis zu sechs Buchstaben, die aussprechbar sind.
Das jüngste Projekt von Hartmut Abendschein ist eine Reihe, in der er Texte ohne die Angabe ihrer Autorin oder ihres Autors publiziert – jeden Montag erscheint ein neuer. Indem die Verfasserin oder der Verfasser verborgen bleibt, könne man sich unversperrt dem Text nähern. «Wenn auf einem Cover Martin Suter steht, liest man das Buch mit einer Martin-Suter-Haltung. Gedanken, was das Literarische daran ist, sind kaum mehr möglich.»
Wenige Zentimeter neben das Logo des Verlags liess sich Hartmut Abendschein vor kurzem eine Viererkonstellation des Kleinbuchstabens a stechen, das Logo der autorschaftslosen Reihe. Seit einiger Zeit erscheinen auf seinem Arm jährlich neue visuelle Gedichte – auch ein Verlagskonzept.
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