«Die Wahl ist unberechenbar»
Das Zeitalter der Konkordanz sei vorbei, sagt der Freiburger Historiker Urs Altermatt. Damit zumindest alle Sprachregionen angemessen in der Landesregierung vertreten sind, plädiert er für neun Bundesräte.
Herr Altermatt, wenn der Freiburger CVP-Ständerat Urs Schwaller morgen in den Bundesrat gewählt würde, wäre dies ein herber Schlag für die FDP. Zum ersten Mal sässe nur ein freisinniger Vertreter in der Landesregierung. Wäre dies lediglich ein Symptom für den Niedergang des Freisinns oder ein historischer Bruch? Urs Altermatt: Für die FDP würde ein einziger Sitz in der Tat ein historisches Tief im Bundesrat bedeuten. Allerdings müsste man dies auch relativieren. Der Freisinn von 2009 ist nicht mit der sogenannten freisinnigen «Grossfamilie» von 1848 zu vergleichen, die den Bundesstaat in den ersten Jahrzehnten beherrschte.
Was ist anders am heutigen Freisinn? Der Freisinn von 1848 umfasste ein weites politisches Spektrum von links bis rechts.
Damals bildete der Freisinn den Gegenpol zu den Katholisch-Konservativen. Inzwischen nähern sich diese Parteien, also die FDP und die CVP, immer mehr in der Mitte an. Könnten die beiden mittelfristig sogar fusionieren? Das glaube ich kaum. Seit der von der FDP mitgetragenen Abwahl von CVP-Bundesrätin Ruth Metzler sind die Beziehungen zwischen den beiden Parteien angespannt. Es ist zu viel Geschirr zerschlagen worden.
Sie haben diese Abwahl im Jahr 2003 als «Tabubruch» in der Geschichte der Konkordanz bezeichnet. Auch an der morgigen Bundesratswahl ist offen, ob die offiziellen Kandidaten gewählt werden. Hat die Konkordanz heute überhaupt noch eine Bedeutung? Da ständig über Konkordanz gesprochen wird, scheint sie trotz allen Bundesrats-Wahlkämpfen relativ grosse Bedeutung zu haben. Es ist aber nicht ganz klar, was die verschiedenen Parteien unter Konkordanz verstehen. Fest steht, dass die Zeit der stabilen Regierungszusammensetzung nach der Zauberformel aus dem Jahr 1959 zu Ende ist. Momentan befinden wir uns in einer Übergangsphase, die mit Sicherheit bis zu den Wahlen 2011 oder auch 2015 andauern wird.
Falls der Christdemokrat Urs Schwaller morgen gewählt wird, würde das Parlament erneut die Konkordanz verletzten. Sind Bundesratswahlen denn im Moment unberechenbar? So kann man das nicht sagen. Selbst wenn man von einer rein arithmetischen Konkordanz ausgeht, sind sowohl die FDP als auch die CVP wählbar. Nach Wähleranteilen liegen die FDP-Liberalen vorne, nach Fraktionsstärke die CVP-EVP-GLP-Fraktion. Unberechenbar sind die Bundesratswahlen seit dem Ende der alten Zauberformel im Jahr 2003.
Wird die Schweiz als Folge davon immer mehr zu einem Konkurrenz- statt zu einem Konkordanzsystem? Von einem Konkurrenzsystem ist die Schweiz sehr weit entfernt. Das Beispiel der SVP zeigt, dass keine Partei in der Opposition bleiben will, sondern jede so rasch als möglich in die Regierung zurückstrebt. Ob das dann eine wirkliche Konkordanzregierung darstellt, lasse ich offen.
Droht ein Sprachenstreit, wenn der Deutschfreiburger Urs Schwaller gewählt wird? Seit dem Rücktritt von Bundesrat Pascal Couchepin findet eine offene Debatte über den Sprachenproporz in der Regierung statt. Nach aussen kann ich vorläufig keinen eigentlichen Sprachstreit feststellen, die parteipolitischen Überlegungen überwiegen zurzeit, zumindest in der öffentlichen Diskussion. Wie die frankofonen Parlamentarier am Mittwoch stimmen werden, bleibt offen.
Sie bezeichnen Schwaller als Freiburger deutscher Muttersprache, der einen mehrheitlich französischsprachigen Kanton vertritt. Damit ist er also kein Romand? Ständerat Urs Schwaller ist zweisprachiger Freiburger mit Wurzeln im deutschsprachigen Sensebezirk.
Die Tessiner fordern nun neun Bundesräte, damit auch die italienische Schweiz einen garantierten Sitz in der Landesregierung hat. Wäre dies eine Lösung, damit die verschiedenen Sprachregionen vertreten sind? Ich spreche mich seit Jahren für eine Erweiterung des Bundesrates auf neun Mitglieder aus, um den sprachlichen Minderheiten – in diesem Fall der italienischsprachigen Schweiz – besser Rechnung tragen zu können. Eine Neunerregierung würde auch grösseren Spielraum für die parteipolitische Zusammensetzung bieten.
Die SVP behauptet, dass es mit einer Wahl Urs Schwallers erstmals eine Mitte-links-Regierung gäbe. Stimmt diese Aussage? In der Schweizer Regierung werden nach dem 16.September immer noch fünf Parteien vertreten sein, die ausser den Grünen das gesamte politische Spektrum abdecken. Es geht um den Ersatz eines einzelnen Mitgliedes des siebenköpfigen Bundesrates. Eine sture Links-rechts-Einteilung ist für dieses Gremium zu schematisch, wie die Geschichte des Bundesrats zeigt. SVP-Bundesrat Adolf Ogi war seinerzeit europafreundlicher als der SP-Bundesrat Otto Stich. Auf welche Seite zählt man heute beispielsweise die CVP-Bundesrätin Doris Leuthard? Wo stand der nun abtretende Bundesrat Pascal Couchepin?
Wagen Sie eine Wahlprognose für Mittwoch? Nein. Bei der Bundesratswahl vom Mittwoch lassen sich Berechnungen nicht machen. Ich bin überzeugt, dass nicht nur der freisinnige Kandidat SVP-Stimmen erhält.
Der Historiker Urs Altermatt hat unter anderem das Standardwerk «Die Schweizer Bundesräte. Ein biografisches Lexikon» verfasst. Der gebürtige Solothurner ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Das Interview wurde schriftlich geführt.
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