Die Umwege des obersten Hirten
Papst Franziskus reist regelmässig nach Südamerika. Seine Heimat Argentinien lässt er stets aus. Das hat mit einem Missbrauchsfall zu tun, sagen Kritiker.

Bald wird der Papst nach Panama reisen. Wieder einmal Lateinamerika. Aber wieder nicht Argentinien. Sicher: Für Panama gibt es eine einleuchtende Begründung, dort findet Ende Januar der Weltjugendtag statt. Weiter offen ist aber, weshalb Franziskus so konsequent sein Heimatland scheut. Seit er als Kardinal Jorge Mario Bergoglio seine Geburtsstadt Buenos Aires verliess, um Benedikt XVI. in Rom abzulösen, hat er sich zu Hause nicht blicken lassen. Dabei war er oft zum Greifen nahe. Er besuchte Brasilien, Ecuador, Bolivien, Paraguay, Kuba, Mexiko, Kolumbien, Chile und Peru, nun auch Panama. Es gibt in Lateinamerika nicht mehr viele Pfade, die dieser Papst noch nicht beschritten hat. Umso offensichtlicher ist, dass immer noch das eigentliche Heimspiel fehlt.
Unter argentinischen Bergoglio-Experten hat sich derweil eine eigene Unterdisziplin entwickelt, in der es darum geht, die unergründlichen Reisewege des obersten Hirten zu entschlüsseln. Meidet er Buenos Aires, weil er Präsident Mauricio Macri keinen Segen für seine neoliberalen Reformen erteilen will? Liegt er mit der Bischofskonferenz über Kreuz? Hat er einfach Besseres zu tun? Der Anwalt Juan Pablo Gallego bringt eine weitere Deutung ins Spiel: «Wenn er hierherkäme, müsste er sich unweigerlich im Fall Grassi positionieren.»
Die Missbrauchsopfer warten auf eine Entschuldigung
Der Priester Julio Cesar Grassi, 62, sitzt seit fünf Jahren im Gefängnis. Bereits 2009 war er wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Das oberste Gericht bestätigte das Urteil im März 2017. Das war das Ende eines langen und spektakulären Verfahrens. Aber für die Missbrauchsopfer und deren Anwalt Gallego ist die Sache nicht erledigt. Sie warten bis heute auf eine Entschuldigung der Kirche, und sie warten auf eine Reaktion von Franziskus. Gallego sagt: «Grassi wurde von allen juristischen Instanzen verurteilt. Aber die Kirche hat ihn nie sanktioniert. Er geniesst weiter den Status eines Priesters.»
Chile, Irland, USA, Australien: Der Papst wird das Thema Missbrauch nicht mehr los. Aber von seiner Reise nach Santiago de Chile vor einem Jahr blieb immerhin der Eindruck, er habe aus seinen langjährigen Versäumnissen im Umgang mit den Pädophilie-Skandalen der Kirche gelernt. Franziskus entsandte einen Sonderermittler nach Chile, versetzte schwer belastete Bischöfe, die nicht freiwillig zurücktraten, in den Laienstand. Er empfing chilenische Missbrauchsopfer in Rom, die zuvor jahrelang auf eine Audienz gewartet hatten, und er bat um Vergebung. Der Anwalt Gallego fragt sich seither: «Warum geht Franziskus in Argentinien nicht genauso vor? Warum wird der verurteilte Triebtäter Grassi weiter vom Vatikan geschützt?» Einen Antwortvorschlag hat Juan Pablo Gallego auch: «Vielleicht aus persönlicher Verbundenheit.»

Bergoglio war zwischen 1998 und 2013 Erzbischof von Buenos Aires – in der Zeit des Aufstiegs und Falls von Grassi. Beide waren vom Geist der Befreiungstheologie geprägt. Gallego behauptet, der Erzbischof sei der Beichtvater Grassis gewesen, was aus dem Umfeld Bergoglios stets bestritten wurde. Ende der Neunzigerjahre kannte man Padre Grassi in Argentinien als populären Fernsehprediger. Er sammelte Spenden für obdachlose Kinder, die er in den Heimen seiner Stiftung Felices Los Niños (Glückliche Kinder) unterbrachte und, nun ja, betreute. 2002 berichteten drei Jungen zwischen 14 und 16 Jahren im Fernsehen, sie seien dort von Grassi missbraucht worden. Ihre Identität wird bis heute geheim gehalten, der Hauptbelastungszeuge alias Gabriel verschwand zwischenzeitlich im Zeugenschutzprogramm.
Gemäss einer Studie soll der Priester unschuldig sein
Dem späteren Papst wird vorgeworfen, derweil seine schützende Hand über den Täter gehalten zu haben. Im Jahr 2010, also nachdem Grassi zu 15 Jahren Haft verurteilt worden war, gab Bergoglio als Vorsitzender der Bischofskonferenz eine 2000 Seiten dicke Studie in Auftrag, bei der genau das herauskam, was laut Opferanwalt Gallego herauskommen sollte: Grassi sei unschuldig, die Jungen hätten gelogen, um den Priester zu erpressen. Alle Gerichte, die sich mit dem Fall beschäftigten, kamen zum gegenteiligen Schluss.
Im Mai 2013, zwei Monate nachdem Bergoglio zum Papst befördert worden war, schrieb der Anwalt Gallego im Namen seines Klienten Gabriel einen Brief an den Heiligen Vater. Darin beklagt er den Schutz des Täters und die Verunglimpfung der Opfer in dem Missbrauchsskandal. Gabriel bat um eine Audienz in Rom sowie um seelischen Beistand, um «meinen Glauben zurückzugewinnen». Bis heute kam keine Antwort.
Es ist müssig, darüber zu spekulieren, ob Franziskus tatsächlich wegen der Causa Grassi bislang auf einen Heimatbesuch verzichtete. Fest steht wohl: Falls er irgendwann doch noch nach Argentinien zurückkehrt, dann wird ihn diese Geschichte wieder einholen.
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