Die Spinner vom Monte Verità
Im Comic «Der Berg der nackten Wahrheiten» mixt Jan Bachmann reale und absurde Geschichten – und lässt diese von einer Ziege kommentieren.

Was für ein Tempo: Erst vor Jahresfrist veröffentlichte der Basler Zeichner Jan Bachmann sein Comicdebüt über Erich Mühsam, jenen deutschen Anarchisten und Querdenker, der um 1910 in der Westschweiz zur Kur weilte. Und der sich in seinem Tagebuch darüber ausliess, wie ihm die Berge die Sicht nähmen und wie es um seinen Stuhlgang bestellt sei, während er sich zwischen sexuellen Abenteuern als Dichter zu profilieren versuchte. Bachmann gewann der verbürgten Reise dieses Bohemien ein Höchstmass an Skurrilität ab, indem er dessen Tagebuchtexte mit knalligen Farben, kühnen Perspektiven und feinironischen Dialogen unterlegte.
Bachmanns zweiter Streich fusst nun auf ähnlich kuriosen Tatsachen: «Der Berg der nackten Wahrheiten» spielt 1900, also zehn Jahre vor dem Mühsam-Comic, und es kommt hier ebenfalls zu einem Culture Clash: Oben auf dem Monte Verità gründen Veganer (beziehungsweise Vegetabilisten, wie sie damals hiessen) eine Kommune, in der man sich gerne nackt bewegt, was auswärtige Spanner anzieht. Unten in Ascona kommen sich währenddessen junge deutsche Anarchisten und die ärmliche Dorfbevölkerung in die Quere. Und dann torkelt auch noch ein baltischer Schnapsbaron durch die Gassen, der, um nicht enterbt zu werden, heiraten sollte; jedenfalls schwärmt er von der örtlichen Wäscherin, möchte aber dem Alkohol keinesfalls entsagen.
Sonderlinge also, wohin man blickt – das scheint sich als Bachmanns Spezialität zu entpuppen, und trotzdem wundert man sich, wenn der Autor als Mittelsfigur ausgerechnet eine sprechende Ziege wählt, die von Ascona aus den Hügel erklimmt: «Ich wollte mir nur einmal ansehen, was ihr Spinner hier oben so treibt», sagt das Tier und bleibt dann bei Gustav «Gusto» Gräser, einem Kommunenmitbegründer, dessen Handlungen (wenig) und Meinungen (viel) sie fortan kommentiert. Mit gutem Grund: Im Tal unten würde die Ziege bloss verwurstet werden.
Aufruhr wegen einer Käserinde
Aber oben herrscht Aufruhr: Zum einen, weil der Kommunengründer Henri Oedenkoven eine verdächtige Käserinde gefunden hat und den Sünder ausfindig zu machen sucht. Zum anderen, weil lauernde Anarchisten plötzlich mit Walnüssen werfen, als die Vegetabilisten-Vordenkerin Ida Hoffmann einräumt, dass man hier ja bloss vom Geld der reichen Industrielleneltern lebe, «um einem Haufen Drückeberger ein paar gemütliche Jahre zu finanzieren». Der angesprochene Gusto (der später in einer Höhle zu Losone hausen und dort mit Hermann Hesse Laotse lesen wird) entgegnet cool: «Was bringt mir eine tragfähige Wirtschaft, in der ich nicht gammeln darf?»
Bei aller Komik und Absurdität: Hier wird der Comic insofern spannend, als er von einer Zeit erzählt, in der es durchaus denkbar schien, dass sich neben dem Kapitalismus und dem Kommunismus eine dritte Weltanschauung herausbilden könnte, die von solchen Alternativbewegungen ausging. Bachmann hält sich da abermals eng an die Quellen, mehrmals wird zum Beispiel auf Harald Szeemanns Ausstellungskatalog zu dessen berühmter Monte-Verità-Ausstellung von 1978 verwiesen.
Ausdruckstänze statt Geld
Und die Ziege? Die arme Dorfbevölkerung fordert natürlich Bezahlung für das Tier, worauf Gusto munter in die Dorfkirche reinstolziert, um kundzutun, dass die Ziege ja freiwillig zu ihm gekommen sei. Er bietet dann allerdings einen Handel an, der sogar den Pfarrer verblüfft: Statt Geld, das Gusto nicht hat, offeriert er einen selbst choreografierten Sonnentanz auf dem Marktplatz, worauf es in der Kirche zu Prügeln kommt. Und die Ziege merkt nachdenklich an: «Also ein Jesus im Predigen ist er nicht gerade!»

Spätestens hier wird deutlich, wie sich Bachmann nicht nur zeichnerisch, sondern auch erzählerisch stark an Joann Sfars Comic-Klassiker «Die Katze des Rabbiners» orientiert. Dort, bei Sfar, debattiert die titelgebende Katz gerne über religiöse Themen im Allgemeinen und übers Judentum im Speziellen. Bei Bachmann bleibt die Ziege wortkarger; dafür formt und färbt Bachmann die Körper von Mensch und Tier auf so abenteuerliche Art, dass man sich in einer expressionistischen Märchenwelt wähnt. Zugleich sind wir Teil einer Gesellschaft, die ebenso ernst- wie lachhaft erscheint in ihren Bemühungen, vom vorgespurten Lebensweg abzuweichen.
«Ich würde mein Verhältnis zu dieser Gemeinschaft als kritisch-solidarisch bezeichnen.»
In dieser Hinsicht ist «Der Berg der nackten Wahrheiten» eine einzigartige Erfahrung. Bedauerlich bloss, dass einige orthografische Fehler das Lesevergnügen schmälern. Und schade auch, dass die Erzählung nach 80 Seiten bereits abbricht und stattdessen ein längerer Epilog folgt, wie der deutsche Bankier (und spätere Nazi) Eduard von der Heydt 1926 den Monte Verità erwarb. Lieber hätte man den Ansichten der Ziege («Ich würde mein Verhältnis zu dieser Gemeinschaft als kritisch-solidarisch bezeichnen.») noch etwas länger gelauscht.

Jan Bachmann: Der Berg der nackten Wahrheiten. Edition Moderne, Zürich 2019. 112 S., ca. 30 Fr.
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