Die Sehnsucht nach Blau
Blau hat in Literatur und Kunst eine besondere Bedeutung. Für die Gruppe «Der Blaue Reiter» war die Farbe Symbol des Geistigen.
Für die Romantiker des 19. Jahrhunderts stand die blaue Blume als Symbol für Sehnsucht und Liebe und für das Streben nach dem Unendlichen. Das Gemälde «Blaue Blume» (1939) von Paul Klee zeigt einen Garten, in dem Blau alles einnimmt. Dass der Berner Künstler in seinen jungen Jahren viele Schnittmengen mit den Aushängeschildern des «Blauen Reiters» hatte und an seinen Ausstellungen vertreten war, erstaunt kaum. Doch wer oder was ist der «Blaue Reiter» eigentlich genau? Eine Bewegung? Eine Gruppe? Eine Ausstellung? Ein Buch?
In seinen Anfängen war der «Blaue Reiter» eine Redaktionsgemeinschaft, bestehend aus den Künstlern Wassily Kandinsky (1866–1944) und Franz Marc (1880–1916). Die beiden Maler wollten ein Buch herausgeben, das ein Glaubensbekenntnis für eine neue, ursprüngliche Kunst sein sollte. «Den Namen ‹Der Blaue Reiter› erfanden wir am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf: beide liebten wir Blau – Marc Pferde, ich Reiter», erinnerte sich Kandinsky später an das Unternehmen. Tatsächlich ziert ein blauer Reiter das von Kandinsky gestaltete Cover des «Almanachs» (1912). Kandinsky verband mit der Figur die in seiner Heimat Russland weit verbreitete Ikone des Heiligen Georg. Dieser ist das Sinnbild des Kampfes gegen das Böse.
Vom absoluten Wesen
Der «Blaue Reiter» stand nicht ohne Pathos für die Befreiung der Welt von den Fesseln des Materialismus, für das Geistige in der Kunst. Franz Marc, Maler zahlreicher Tiere, drückte es wie folgt aus: «Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr absolutes Wesen, das hinter dem Schein lebt, den wir nur sehen.»
Eines seiner berühmten Pferde, das Gemälde «Blaues Pferd II» (1911), gehört dem Kunstmuseum Bern. Das von hinten dargestellte Pferd zwingt dem Betrachter seine Perspektive auf. Dahinter steckt Franz Marcs Wunsch, sich in die Seele der Tiere hineinzufühlen. Die Landschaft wirkt in ihrer Farbigkeit unwirklich. Ob ein Bach oder ein Weg, ob Hügel oder Wolken dargestellt sind, kann nur erahnt werden.
Marc wie Kandinsky hatten eine besondere Beziehung zu Blau. Für Marc war Blau «das männliche Prinzip, herb und geistig». Kandinsky schwärmte wie folgt: «Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schliesslich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels.»
Blaue Stunde
Die erste Ausstellung des «Blauen Reiters» fand 1911 in München statt. Sie zeigte fünfzig Werke von so verschiedenen Künstlern wie Robert Delaunay, Heinrich Campendonk, Gabriele Münter oder Henri Rousseau. Im Mittelpunkt stand aber ohne Frage Kandinsky, der sich als Kurator, Künstler und Theoretiker hervortat. Die Ausstellung mit wechselnden Exponaten durchlief mehrere Stationen im In- und Ausland. In der Presse wurde Kandinskys Kunst als Idiotismus verhöhnt.
Die zweite Ausstellung zeigte ausschliesslich grafische Arbeiten. Mit Picasso und Braque waren die Kubisten dabei, mit Kasimir Malewitsch die russische Avantgarde. Paul Klee war mit sieben Grafiken vertreten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges setzte allen Aktivitäten dieser losen Künstlergruppe ein Ende.
Was ist geblieben von dieser blauen Stunde vor dem Einbruch dunkelster Nacht? Die Idee, Künstler aus aller Welt zusammenzuführen, Eurozentrismus aufzusprengen und Schöpferisches in den unterschiedlichsten Gattungen zu erkennen – sie hallt bis heute nach.
In unserer Herbstserie widmen wir uns jede Woche einer Farbe. Diese Woche ist Blau an der Reihe.
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