«Die Schule ist ganz klar keine Unternehmung»
Seit Sommer ist Kaspar Stocker Schulinspektor im Oberaargau. Von Baustellen will der 49-Jährige nicht reden – lieber von Herausforderungen. Solche sieht er etwa bei der neuen Rolle der Behörden. Aber auch beim in der Grenzregion besonders ausgeprägten Mangel an Speziallehrkräften.

Herr Stocker, Sie sind vor einem halben Jahr von der BKW Energie AG zur Erziehungsdirektion gekommen. Haben Sie sich in Ihrer neuen Aufgabe überhaupt schon einleben können in dieser kurzen Zeit?
Kaspar Stocker: Ich habe mich sogar sehr gut eingelebt, in dem Sinn, als ich überzeugt bin, hier genau am richtigen Ort zu sein. Meine Arbeit gefällt mir. Wobei ich auch zugeben muss, dass der Respekt davor gleichzeitig sicher noch einmal gewachsen ist. Ich wusste ja, dass viel Neues auf mich zukommt. Die ganze Bandbreite der Aufgaben lernt man dann aber doch erst kennen, wenn man einmal im Job drin ist.
Sie sind ausgebildeter Lehrer, haben dem Schulbetrieb aber bald einmal den Rücken gekehrt. Warum?
Ich habe immer sehr gerne Schule gegeben. Dass ich damit aufgehört habe, war sicher keine Flucht. Aber ich wollte noch etwas ganz anderes machen.
Der Unternehmer Nicolas Hayek hat seinerzeit einmal in einem Interview gesagt, die Schweiz zähle so viele hervorragende Techniker und so viele hervorragende Betriebswirtschafter; was fehle, seien jedoch die Nahtstellen zwischen den beiden Bereichen, Fachkräfte, die Zugang zu beiden haben.
Das hat mich inspiriert. Deshalb habe ich Bauingenieur studiert und später auch Betriebswirtschaft. Bei der BKW konnte ich diese beiden Bereiche als Kundenportfoliomanager schliesslich ideal miteinander verbinden.
Trotzdem sind Sie jetzt ins Bildungswesen zurückgekehrt. Warum?
Nun, ich bin in meiner Wohngemeinde Vechigen seit 2013 als Gemeinderat für das Bildungswesen zuständig. Dabei habe ich wieder zu meiner alten Liebe zurückgefunden. Es ist mir sehr wichtig, eine Arbeit ausüben zu können, die ich als sinnvoll erachte. Und über die Sinnfrage muss man im Schulwesen ja wohl kaum diskutieren.
«Es ist mir sehr wichtig, eine Arbeit ausüben zu können, die ich als sinnvoll erachte.»
Eine Rückkehr als Lehrer war aber keine Option für Sie?
Es ist sicher kein Zufall, dass ich nicht mehr unterrichte. In meiner Funktion als Schulinspektor geht es ja ebenfalls ums Lernen, allerdings mehr mit Erwachsenen. Das liegt mir vielleicht näher. Kommt hinzu, dass meine Frau als Heilpädagogin schon mittendrin ist im Schulbetrieb.
Sie sagen, Sie seien im Schulinspektorat am richtigen Ort. Was ist Ihr erster Eindruck vom Oberaargau?
un, ich habe hier ein sehr intaktes Schulwesen angetroffen, mit kompetenten Schulleitungen und einer guten Vernetzung. Natürlich stehen wir auch im Oberaargau vor grossen Herausforderungen. Aber das gehört dazu.
Kurz vor Ihrem Amtsantritt haben schwere Mobbingvorfälle an der Schule Roggwil Diskussionen ausgelöst. Solche Ereignisse stellen die Volksschule nicht gerade in ein gutes Licht. Was unternehmen Sie dagegen?
Roggwil war ein Ausnahmefall. Aber man muss sich schon bewusst sein: Gewalt an Schulen passiert. Und Vorbeugen ist schwer, denn manchmal werden aus relativ kleinen Sachen sehr schnell sehr grosse.
Was wir vom Schulinspektorat her tun können, ist zu versuchen, so nahe wie möglich dran zu sein, vor Ort zu kommunizieren und Gemeinden wie Schulen auf Beratungsangebote und Fachleute aufmerksam zu machen.
Ich glaube aber nicht, dass wegen der Ereignisse in Roggwil die Qualität unseres Schulsystems an sich infrage gestellt werden sollte. Natürlich: Die Schule ist ein Glashaus, das war sie aber schon immer. Sicher ist die Haltung der Eltern gegenüber der Schule eine andere als noch vor zwanzig Jahren.
Das meine ich aber nicht einmal wertend. Dass Titel oder Rang von Menschen generell und von Lehrern im Speziellen heute eine geringere Bedeutung haben, ist ein Zeichen unserer Zeit.
Sie sind offen für Kritik?
Ich glaube schon. Es ist wichtig, dass wir jemanden, der reklamiert, grundsätzlich einmal ernst nehmen, ja. Manchmal gelangen Eltern allerdings direkt ans Schulinspektorat, statt sich zuerst einmal mit der Schulleitung in Verbindung zu setzen. Dann ist es unsere Aufgabe, den richtigen Weg aufzuzeigen.
«Manchmal gelangen Eltern allerdings direkt ans Schulinspektorat, statt sich zuerst einmal mit der Schulleitung in Verbindung zu setzen.»
So oder so ist das Schulwesen im Wandel. Wo befinden sich im Oberaargau die grossen Baustellen?
Grundsätzlich ist die Schullandschaft im Oberaargau wie gesagt sehr intakt. Ich möchte deshalb nicht von Baustellen reden, das klingt so negativ. Es sind vielmehr Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt.
Zum Beispiel haben sich durch die Professionalisierung der Schulleitungen die Aufgaben und Anforderungen der Behörden verändert. In ihrer neuen Rolle muss die Schulbehörde strategisch denken.
Sie muss die Entwicklung einer Gemeinde zu antizipieren versuchen und erkennen, was diese für die Schule bedeuten wird, welche Schulmodelle längerfristig sinnvoll sein könnten und welchen Raumbedarf eine Schule brauchen wird in fünf und mehr Jahren.
Diese strategische Aufgabe ist sehr anspruchsvoll. Das Schulinspektorat unterstützt Schulleitungen und, gerade in solchen Fragen, auch die Behörden. Wobei ich auch auf die diversen Angebote der Pädagogischen Hochschule aufmerksam machen möchte.
Sind die Gemeinden mit ihren Aufgaben allein überfordert?
Nein, so möchte ich das nicht sagen. Aber ihre Rolle ist wie gesagt keine einfache. Ein gutes Beispiel ist da auch die gesamte Informations- und Kommunikationstechnologie. Für viele Gemeinden ist die ganze ICT ein riesiger Brocken. Schliesslich müssen sie nicht nur die gesamte Infrastruktur beschaffen, sondern danach auch deren Unterhalt gewährleisten.
Das macht die Interaktion zwischen Schulleitung und Behörde so wichtig: Die Schulleitung kann sagen, was sie braucht. Aber die Gemeinde muss entscheiden, was drinliegt. Es gilt also auch immer die aktuelle Politik einer Gemeinde mitzuberücksichtigen.
Eine weitere wesentliche Herausforderung leitet sich für mich aus der Geografie des Oberaargaus ab: Die bessere Entlöhnung in den Nachbarkantonen erschwert es insbesondere im Bereich der Speziallehrkräfte, Personal zu finden. Wir haben heute über den ganzen Kanton gesehen einen Mangel an Heilpädagogen, und ganz speziell im Oberaargau.
«Die bessere Entlöhnung in den Nachbarkantonen erschwert es insbesondere im Bereich der Speziallehrkräfte, Personal zu finden.»
Und wie wollen Sie dem entgegenwirken?
Indem wir versuchen, als Arbeitgeber attraktiver zu werden. Der Lohn ist ja nur ein Aspekt einer Stelle, und auf den haben wir keinen Einfluss. Aber gemeindeübergreifend könnten die Schulen vielleicht interessantere Pensen anbieten, indem sie zum Beispiel die Stundenplanung noch mehr aufeinander abstimmen. Ich glaube da dran. Ob tatsächlich Verbesserungspotenzial vorhanden ist, wird sich zeigen.
Der Mangel an Speziallehrkräften dürfte sich auch bei der Integration lernschwacher und behinderter Kinder bemerkbar machen. Wie stark?
Die Integration basiert in erster Linie darauf, dass vieles im sogenannten Teamteaching erfolgt. Natürlich bestehen diese Teams im Idealfall aus einer Lehrperson und einem Heilpädagogen. Aber wenn keine Heilpädagogen vorhanden sind, wird diese Aufgabe von zwei Lehrpersonen übernommen.
Der Erfolg der Integration liegt vor allem auch in der Zusammenarbeit aller Beteiligten, wobei wir auf die Fachkompetenz von Heilpädagogen trotzdem nicht verzichten können. Wir haben immer auch die Möglichkeit, zusätzliche Lektionen zu bewilligen, was meist ein gutes Auffangnetz darstellt. Mir sind aktuell jedenfalls keine grösseren Probleme bekannt.
Und ich kann nur wiederholen: Ich habe hier einen Schulkreis angetroffen, der wirklich sehr gut funktioniert. Übrigens gelten die Schulleitungen im Oberaargau auch gegenüber den mit dem Lehrplan 21 einhergehenden Veränderungen als sehr offen und konstruktiv.
«Veränderung ist in der Regel die beste Vorbereitung auf die nächste Veränderung.»
Woran liegt das?
Das kann ich nicht sagen, es scheint eine Grundhaltung zu sein. Vielleicht hängt diese Offenheit auch mit den Veränderungen zusammen, die gerade die Schulen in kleineren Gemeinden in den letzten Jahren bereits durchlebt haben. Veränderung ist in der Regel die beste Vorbereitung auf die nächste Veränderung, denn sie schafft Vertrauen, dass es auch diesmal gelingen wird.
Vor zehn Jahren standen aufgrund kleinerer Jahrgänge plötzlich überall Klassenschliessungen an. Die Schulen wurden vielerorts zentralisiert. Jetzt wird zum Beispiel in Wynau wieder eine eigene Oberstufe eingeführt, und am bisherigen gemeinsamen Schulstandort Roggwil ist man sogar froh darum. Geht der Trend nun wieder in Richtig Dorfschule?
Weder ja noch nein. Entscheidend sind für viele Gemeinden das Vorhandensein und der Zustand einer eigenen Infrastruktur. Denn für diese müssen sie allein aufkommen. In Wynau sind genügend Schulräume vorhanden dazu, die Oberstufe ohne grosse Investitionen ins Dorf zurückzuholen. Wo dafür viel investiert werden müsste, muss man sich schon sicher sein, dass die Investition auch langfristig sinnvoll ist.
Gerade kleinere Gemeinden sind schwankenden Schülerzahlen natürlich viel stärker unterworfen als grössere, was langfristiges Investieren erschwert. Grössere Schulen haben zudem mehr Spielraum bei der Wahl des Schulmodells, die an sich ja aus pädagogischen Überlegungen heraus erfolgen sollte und nicht nur aufgrund von Schülerzahlen.
Sie plädieren also eher für eine Zusammenarbeit als für den Alleingang einzelner Gemeinden?
Ich glaube zumindest, dass eine Zusammenarbeit sehr wichtig ist. Eine Zusammenarbeit im Bewusstsein aber auch, dass die übernehmende Gemeinde immer auch ein Dienstleister der abgebenden Gemeinde ist. Und eine Dienstleistung steht und fällt mit der Kundenzufriedenheit.
Hier spricht jetzt aber der Betriebswirtschafter. Sie sehen die Schule als Unternehmen?
Die Schule ist natürlich ganz klar keine Unternehmung, sie ist allenfalls eine Non-Profit-Organisation. Aber gewisse Managementüberlegungen haben doch auch ihren Platz im Schulsystem. Wir haben einen vorgegebenen Spielraum, den wir sinnvoll nutzen müssen. Und da muss man durchaus auch etwas unternehmerisch denken unter Berücksichtigung der politischen Möglichkeiten.
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