Die Retterin von Flüchtlingen wird 103
Im neu erschienenen Buch «Vergessene Frauen» ist ihr nun ein Kapitel gewidmet. Heute wird sie 103 Jahre alt.
Es gibt zwar immer mehr Hundertjährige in Bern. Aber mit ihrem heutigen 103.Geburtstag ist Emma Ott eine seltene Erscheinung. Bis vor fünf Jahren führte sie einen eigenen Haushalt, seither lebt sie in einer kleinen Wohnung im Burgerspittel Viererfeld. Der Ittiger Pfarrer und Historiker Peter Märki, ein langjähriger Freund, begleitet die Besucher in ihre Wohnung. «Guten Tag, Tante Emma, hier sind wir», grüsst er und stellt die Gäste vor. Ihr immer noch dichtes weisses Haar trägt sie zum «Bürzi» hochgesteckt, wie damals, als sie während des Zweiten Weltkrieges jüdische Flüchtlinge in Lagern in Südfrankreich betreute und mehreren Menschen das Leben rettete. Mit wachem Blick und breitgezogenen Mundwinkeln grüsst sie. Noch immer lassen ihre sehnigen Beine und Arme die damalige robuste Natur erahnen, mit der sie sich vor bald siebzig Jahren in Frankreich für jüdische Flüchtlinge engagierte. Ein siebenarmiger Kerzenleuchter erinnert neben ihrem Sofa an ihre Beziehungen mit Überlebenden des Holocaust. Ein Kapitel in einem Buch Zu ihrem besonderen Geburtstag hat sie nun für ihre besonderen Taten ein besonderes Geschenk erhalten: Die Historikerin Helena Kanyar hat ihr in ihrem Buch «Vergessene Frauen» ein längeres Kapitel gewidmet. Die 1907 in Winterthur geborene Emma Ott übernahm als Zweitälteste von acht Kindern die Verantwortung für ihre kleineren Geschwister. Im Buch wird sie als zähe, aber bescheiden gebliebene Person umrissen. Ihre Anstellungen als Haushaltsgehilfin führten sie unter anderem in mehrere Pfarrhäuser, wo sie sich für religiöse, soziale und politische Fragen zu interessieren begann. Ab 1932 absolvierte sie im Berner Engeriedspital eine Lehre als Krankenschwester. Ihre ersten drei Jahre als Schwester führten sie zum Theologen und Pfarrer Albert Schweitzer, der in Zentralafrika eine Missionsstation aufgebaut hatte. 1939 kehrte Emma Ott nach Bern zurück – bis Anfang 1942. Gegenüber Kanyar erzählte sie noch Anfang 2010: «Ich konnte es in der Schweiz nicht mehr aushalten, weil das Elend in den Nachbarländern so gross war.» Die Erinnerung und das Erzählen fallen ihr bei der Begegnung diese Woche schwer. «Sie müssen laut, langsam und deutlich und mit einfachen Worten sprechen», mahnt Peter Märki mehrfach. Bis vor wenigen Jahren habe sie ein brillantes Gedächtnis gehabt und sich präzis an Namen und Details erinnert. Jetzt antwortet sie oft: «Ich weiss es ‹nümme›.» «Man hätte schreien können» Emma Ott begann ihre Arbeit im südfranzösischen Lager Gurs. Hinter vierfachem Stacheldraht haben gemäss einem früheren Bericht von Ott die Männer und Frauen in niedrigen, dunklen Räumen getrennt gehaust, in unvorstellbarer Armut und im Schmutz. In der Schweizer Baracke des Lagers sei es etwas angenehmer gewesen, freundlicher, mit kräftigeren Mahlzeiten und kulturellen Anlässen. Ott übernahm für einige Monate die Leitung. Anfang August wurden innert weniger Tage fast 1700 Menschen in den Osten deportiert. «Man hätte in die ganze Welt schreien wollen ‹Hört auf!›», schrieb sie in einem Rapport, «doch wir mussten schweigen.» Nach wenigen Monaten wechselte Emma Ott in das Lager Rivesaltes. Die Bestimmung vom August 1942, die Schweizer Grenzen für jüdische Flüchtlinge abzusperren, bekam die dortige Schweizer Baracke rasch zu spüren: Das Gebäude wurde von den Neuankömmlingen im Lager mit Steinen beworfen, die Schwestern beschimpft. Um Kinder vor Deportationen in den Osten zu retten, begann Ott, sie in einer abgelegenen Baracke zu verstecken und ihnen die Flucht zu ermöglichen. Aufenthalte in weiteren Lagern folgten. Im Mai 1944 gelang es ihr, vier junge Frauen im Waisenhaus eines Franziskanerklosters unterzubringen, von wo aus sie über Spanien nach Palästina auswandern konnten. Späte Genugtuung Zum Dank erhielt sie jahrzehntelang Briefe von Überlebenden und bis vor einem Jahr auch eine Kiste Grapefruits direkt aus Jaffa. «Sie sind inzwischen alle gestorben», stellt Emma Ott wehmütig fest. Anders als manche andere Schweizer Helferinnen erhielt sie von offizieller Seite nie eine Auszeichnung. «Sie müsste für ihre Rettungsaktionen als ‹Gerechte unter den Völkern› geehrt werden», ist Peter Märki überzeugt. Diese Personen erhalten in Yad Vaschem, dem Holocaustmuseum in Jerusalem, eine Plakette zur Erinnerung. Kürzlich wurde bei der israelischen Botschaft in Bern ein entsprechender Antrag eingereicht. «Über eine solche Ehrung würdest du dich schon freuen, Tante Emma, gell?» Emma Ott lacht mit neckischem Ton und fügt bei: «Jaja.» Diese Genugtuung käme spät, doch sie käme. Und man hätte auch mehr als 20 Seiten in Helena Kanyars Buch «Vergessene Frauen» über sie schreiben können, wendet Märki ein. «Ja, das hätte man schon können», antwortet die alte Dame, die heute 103 Jahre alt wird. «Aber das ist nicht mehr nötig.» Wie hiess es schon im Buch? Eine bescheidene Frau.Hannah Einhaus>
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