Die Nazi-Vergangenheit verdunkelt die Berlinale
Der neue Leiter Carlo Chatrian soll die Berlinale klarer ausrichten. Bis jetzt musste er vor allem auf Kritik reagieren.

Normalerweise ist das Archiv auf der Berlinale-Website ein nützlicher Ort, um etwas über die Festival-Geschichte zu erfahren. Neuerdings klebt dort aber ein Warnhinweis: Das Archiv stehe «unter dem Vorbehalt einer externen fachwissenschaftlichen Untersuchung», heisst es jetzt.
«Die Zeit» hatte aufgedeckt, dass Alfred Bauer, Gründer und erster Leiter der Berlinale von 1951 bis 1976, eine hochrangige Funktion in der Reichsfilmintendanz unter Propagandaminister Joseph Goebbels gehabt hatte.
Offenbar gelang es Bauer, nach 1945 seine Rolle in der Nazi-Filmbürokratie zu verschleiern. Laut der Recherche soll selbst eine geplante neue Alfred-Bauer-Biografie eines Filmhistorikers die Quellen zum Teil selektiv oder verharmlosend zitieren. Die Herausgeberin, die Deutsche Kinemathek, verschob die Veröffentlichung der Biografie nach dem «Zeit»-Artikel.
Die Ankündigung zum Buch findet man im Netz trotzdem noch: «Woher kam der gewiefte Funktionär und engagierte Filmhistoriker, der 1976 aus Altersgründen das Festival verliess?», heisst es da. Nun, er kam laut neuestem Wissensstand direkt aus der Nazi-Filmpolitik, war Mitglied von NSDAP und SA. Wie die Berlinale gestern mitteilte, hat sie das Institut für Zeitgeschichte in München als unabhängige Stelle damit beauftragt, Bauers Rolle in der NS-Zeit zu erforschen. Die Ergebnisse des historischen Gutachtens sollen im Sommer vorliegen.
Kritik an Programm und Gästen
Bevor er sein erstes Programm bekanntgegeben konnte, musste der neue künstlerische Berlinale-Leiter Carlo Chatrian jedenfalls zuerst den Alfred-Bauer-Preis aussetzen, der seit 1987 für «neue Perspektiven in der Filmkunst» verliehen wird. In Interviews zusammen mit der Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek beteuerte Chatrian, die Verbindungen der Berlinale zur Deutschen Kinemathek seien gar nicht eng, und von einer während der Festspiele geplanten Präsentation der Bauer-Biografie habe man nichts gewusst.
Seinen Einstand in Berlin hat sich der ehemalige Locarno-Leiter Chatrian wohl anders vorgestellt. Im Vorfeld der 70. Ausgabe musste er zusätzliche Angriffe abwehren bezüglich Programm und Gästen.
Zum einen hat der US-Wettbewerbsbeitrag «Never Rarely Sometimes Always» seine Premiere bereits am Sundance gehabt, was der Direktor aber nicht schlimm findet: Man wolle dem Berliner Publikum eine Entdeckung nicht vorenthalten, nur weil man sie nicht als erstes zeigen könne. Zum anderen war Jurypräsident und Schauspieler Jeremy Irons früher mit homophoben Äusserungen aufgefallen. Diese Aussagen habe Irons inzwischen revidiert, so der Italiener in einem Interview.
Sagenumwobenes Projekt
Und die Filme? Wenn die 70. Berlinale am Donnerstag eröffnet wird, dann mit einem Programm, das Kontinuität bietet, aber die Auswahl von den Rändern her schärft. Eine Neuinterpretation von «Berlin Alexanderplatz» mit einem westafrikanischen Flüchtling als Franz «Francis» Biberkopf? Das Liebesdrama «Undine» von Christian Petzold nach dem mythischen Wassergeschöpf? All das wäre auch unter Chatrians Vorgänger Dieter Kosslick gelaufen.
Neu ist dafür die Wettbewerbsreihe «Encounters» fürs herausfordernde Kino, die gleich schon mit dem über dreistündigen «Malmkrog» des Rumänen Cristi Puiu startet, angekündigt als eine «Tour de Force des Denkens». Aus seiner Locarno-Zeit kennt man Chatrian als debattierfreudigen Freund von Zumutungen, dem viel lag an einem Weltkino, das versucht, die Wahrnehmung zu schärfen. Eine besucherfreundlichere Piazza Grande wie in Locarno gibt es in Berlin jedenfalls keine, und der Wettbewerb werde gemäss Chatrian eher «düster».
Gestärkt wird auch die Nähe zur Kunst, etwa mit «DAU. Natasha» des Russen Ilya Chrschanowski, der für sein sagenumwobenes Kunst- und Filmprojekt über den Physiker Lew Landau in der Stadt Charkiw in der Ukraine ein Forschungsinstitut nach sowjetischem Vorbild errichten liess, in dem zwischenzeitlich 400 Menschen unter realsozialistischen Bedingungen lebten und sich filmen liessen.
Eine DAU-Installation in Berlin wurde 2018 von den Ämtern nicht bewilligt, jetzt zeigt die Berlinale eine 140-Minuten-Version sowie eine längere Fassung aus den insgesamt über 700 Stunden Film.
Zwischen Galerie und Kino bewegt sich schliesslich der 88-jährige Filmemacher Alexander Kluge, der mit der Schauspielerin Lilith Stangenberg in «Orphea» den Orpheus-Mythos umdeutet, während die Volksbühne zu seinen Ehren eine «Multimedia-Ausstellung» ausrichtet.
www.berlinale.de, 20. 2. bis 1. 3.
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