Die Mutterhölle
Mütterliche Liebe ist die reinste Liebe überhaupt. Doch was, wenn man sich in der Mutterrolle nicht zurechtfindet? Unsere Gastautorin berichtet von den Schattenseiten des Mutterseins.

Ich hatte alles, was ich mir vom Leben je erhofft hatte: ein Haus auf dem Land, eine Wohnung in der Stadt, ein eigenes Geschäft und Unabhängigkeit. Ich war Mitte 30, als ich auch noch den richtigen Mann kennenlernte. Grosse Liebe! Da war nur eine Unstimmigkeit: Er wollte Kinder, ich auf gar keinen Fall.
Mein Leben begann zu bröckeln, nachdem ich beschlossen hatte, doch noch Kinder zu kriegen. Innert kürzester Zeit wurde ich schwanger. Doch die Schwangerschaft fühlte sich an wie eine Fremdbesetzung. Die Geburt war traumatisch, und als ich dann das Kind in den Armen hielt, fühlte ich nichts anderes als Befremden. «Babyblues, ganz normal, chunt scho guet.»
Zu Hause erwachte die Kleine allmählich, und mit dem Erwachen kam das Schreien. Ich wickelte sie ins Tragetuch und trug sie herum, Tag und Nacht, drinnen und draussen, auf und ab. An hinlegen war nicht zu denken. Ab und an heulte ich ebenfalls ein paar Stunden mit, dann riss ich mich wieder am Riemen. Da hatte ich zum ersten Mal den Wunsch, das Kind zurückzugeben. Wieso war ich nicht so glücklich wie die anderen neuen Mütter? War ich abnormal? «Chunt scho guet. Es chunt so vil zrugg, wirsch gseh!» Doch es kam nicht gut, und zurück kam nichts. Was sollte auch? Eine Erklärung? Eine Entschuldigung? Liebe? Liebe war da. Ich liebte mein Kind, weil die Natur es so eingerichtet hatte. Doch diese Liebe machte mich nicht glücklich.
Als die Zeit des Brüllens und Herumtragens zu Ende ging, kam die Mobilität. Herumtragen wurde von hinterherrennen abgelöst. Ich war erschöpft. Vor allem erschöpfte mich diese abgrundtiefe, öde Langweile, die ich empfand, wenn ich mich einen Tag lang alleine mit meiner Tochter beschäftigen musste. Deshalb verabredete ich mich an meinen Kindertagen mit anderen Müttern. Hatte ich einmal keine Verabredung, geriet ich in Panik. Schliesslich reduzierte ich die Betreuung auf einen einzigen Tag in der Woche, den Freitag. Der schrecklichste Tag in der Woche. Ich begann mich davor zu fürchten.
Wir beschlossen, ein weiteres Kind zu haben. Dann wäre meine Tochter nicht mehr so fixiert auf mich. Sie hätte jemanden zum Spielen und Streiten. Mit der Geburt meiner zweiten Tochter begann alles von vorne. Das Brüllen, das Tragen, die Schlaflosigkeit. Zurück zum Start. Gleichzeitig war die ältere Tochter in der Trotzphase, und das nicht zu knapp. Sie begann zu beissen. Sie hatte Wutanfälle und schlug mich. Ich hätte sie gerne ebenfalls geschlagen, ihr wehgetan, doch ich konnte mich beherrschen. Jedes Mal.
Mein Geschäft hatte sich nach der zweiten Babypause praktisch aufgelöst, und ich hätte massenhaft Zeit gehabt, mich um die Kinder zu kümmern. Ich wäre jedoch lieber anschaffen gegangen, als mich auch nur einen Tag mehr um meine Kinder kümmern zu müssen. Deshalb schickten wir sie weiterhin in die Krippe, obwohl das beinahe unseren finanziellen Ruin bedeutete.
Als meine Töchter 2 und 4 Jahre alt waren, hatte ich vier Jahre nicht mehr richtig geschlafen und jegliche Freude verloren. Ich sass in einem Leben fest, das ich verabscheute. Alles, was mir früher wichtig gewesen war – mein Job, mein Haus, meine Unabhängigkeit – war weg. Ich gab es zu: Ich bereute es zu tiefst, mich für Kinder entschieden zu haben. Die Liebe zu meinen Kindern war zwar da, aber das machte das Dilemma nur grösser. Ich redete mit meinen engsten Freunden. Man nahm mich nicht ernst. «Du scho wieder. Gang mal ins Spa!» und immer wieder «Chunt scho guet!»
Ich konsultierte Coaches, Therapeuten, Eheberater. Das half vorübergehend. Aber mein Unglück wurde ich nicht los. Ich hasste den Morgen und ich hasste den Abend. Dazwischen war Leere. Mein Zuhause war mir zum schlimmsten Ort auf Erden geworden, Ferien ein nicht enden wollender Albtraum.
Dann redete ich mit meinem Mann. Ich sagte, dass ich ihn und die Kinder liebe, aber es nicht mehr aushalte, Mutter zu sein. Ich sei nicht dafür geschaffen, es sei ein Fehler gewesen. Ob er sich vorstellen könne, die Kinder wegzugeben. Er sah mich an wie die Hexe in «Hänsel und Gretel». Das komme nicht infrage, dann eher Scheidung. Ich sagte, wenn es keinen anderen Weg gebe, dann Scheidung. Aber ich wolle das Sorgerecht nicht. Er war verzweifelt. Ich sagte, es gebe noch eine andere Möglichkeit, ich könnte zum Psychiater gehen und mir Psychopharmaka verschreiben lassen. Dann wäre ich zwar ein zugedröhnter Zombie, aber vielleicht würde uns das über die nächsten Jahre bringen. Er willigte ein. Und dann kam alles anders.
Ich musste weder zum Psychiater noch die Medikamente nehmen. Allein die Entscheidung, dies zu tun, hatte mir Gelassenheit verliehen. Die Lage begann sich zu entspannen. Der Druck nahm ab. Das Unglück wurde kleiner. Die ganze familiäre Situation wurde erträglich. Und das Allerbeste: Der Geschwisterplan ging auf. Die Kinder begannen miteinander zu spielen. Sie wurden selbstständiger, konnten vieles ohne mich machen und sich dabei gegenseitig helfen.
Schliesslich ist tatsächlich viel zurückgekommen und alles ist gut geworden. Jedoch nur durch mich selber. Genauso wie ich nicht für das Glück meiner Kinder zuständig bin, sind sie nicht für mein Unglück verantwortlich. Himmel und Hölle erschaffen wir uns selber. Ich habe mich neu gefunden und neu erfunden. Mutter zu sein sehe ich immer noch nicht als meine Bestimmung. Aber es ist zu einem wertvollen Teil meines Lebens geworden.
Dieser Artikel wurde erstmals am 4. September 2014 publiziert und am 23. Mai 2023 in dieses Redaktionssystem übertragen.
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