«Die meisten Strafverfahren werden eingestellt»
Häusliche Gewalt: Juristin Marianne Schwander sagt, wieso die Bestrafung des Täters für Opfer oft nicht das Wichtigste ist.

Frau Schwander, weshalb kommt es erst jetzt zu einem Gesetz, das den Umgang mit häuslicher Gewalt regelt?
Häusliche Gewalt gilt erst seit 2004 als Offizialdelikt, also als Straftat, die die Behörden von Amtes wegen verfolgen müssen. Trotzdem hat das Opfer heute das Recht, ein Verfahren zu sistieren, und die meisten Strafverfahren werden auch eingestellt. Eine sehr unbefriedigende Situation.
Weshalb beanspruchen die Opfer dieses Recht so häufig?
Das hat mit dem Gewaltzyklus zu tun. Bei gewalttätigen Beziehungen lassen sich klare Muster erkennen: In der ersten Phase wird Spannung aufgebaut, und es kommt zu kleinen, übergriffigen Zwischenfällen, verbal oder körperlich. Dann erfolgt der akute Gewaltakt. Und unmittelbar darauf beginnt die sogenannte Honeymoon-Phase: Anstatt dass die Tatperson Verantwortung übernimmt, rechtfertigt sie ihre Handlungen. Sie ist dann oft sehr liebevoll, überhäuft das Opfer zum Beispiel mit Rosen.
Mit welchen Folgen?
Frauen etwa ziehen dann nicht selten aus dem Frauenhaus zurück nach Hause und wollen, dass das Strafverfahren sistiert wird. Eigentlich lieben sie ja ihren Mann. Nach der Honeymoon-Phase aber beginnt der Gewaltzyklus erneut.
Das neue Gesetz ermöglicht den Behörden, sich in solchen Fällen über das Opfer hinwegzusetzen. Ist das ratsam?
Gewaltbetroffenen Personen, die mehrere Zyklen durchlaufen, wird oft gesagt: «Es war wohl doch nicht so schlimm, sonst wärst du nicht wieder zurückgegangen!» Wichtig ist hier, dass die Polizei und auch die Gesellschaft das Wissen über den Gewaltzyklus haben und dem Opfer keine Mitschuld übertragen. Sondern die Person klar als Opfer sehen.
Sollte das Opfer bei einem Verfahren trotzdem das letzte Wort haben?
Ich plädiere für zwei Möglichkeiten: Entweder wird häusliche Gewalt als Offizialdelikt eingestuft, ohne dass das Opfer das Verfahren sistieren kann – dann hat das Gericht das letzte Wort. Oder aber das Gericht stellt fest, dass dem Opfer zwar ein Unrecht widerfahren ist, und man sieht von einer Bestrafung ab. Letzteres liegt regelmässig im Interesse der Opfer.
«Für uns ist es schwierig, etwas als reinen Zufall einzustufen.»
Was wollen gewaltbetroffene Personen?
Es gibt nicht «das Opfer», das heisst, es existieren ganz verschiedene Opferbedürfnisse. Wichtig ist aber vielen die erwähnte öffentliche Feststellung, dass ihnen Unrecht widerfahren ist und dass sie daran keine Mitschuld tragen. Im häuslichen Bereich haben viele das Bedürfnis nach Schutz und Unterstützung. Sie wollen ausserdem angehört und ernst genommen werden.
Weshalb hat man sich lange kaum um die Bedürfnisse von Opfern gekümmert?
Das Strafrecht ist klar täterorientiert, das ist historisch bedingt. Bevor es Staaten gab, existierte nur die Beziehung zwischen Tatperson und Opfer. Ob sich ein Opfer gewehrt hat, war von seiner Stellung in der Gesellschaft abhängig. Mit den Rechtsstaaten bildete sich das Gewalt- und Strafmonopol aus: Die Regelung und Aufarbeitung einer Tat hat man dem Staat übergeben. Man konzentrierte sich fortan auf die Zweierbeziehung von Tatperson und Staat.
Ist das noch zeitgemäss?
Ja, das Verfahren muss objektiviert sein. Das heisst aber nicht, dass das Opfer nicht miteinbezogen werden soll. Allerdings geschieht das nicht übers Strafrecht, sondern über das Opferhilfegesetz und die Strafprozessordnung.
Ist das Opfer unschuldig?
Die Person, welche die Grenze zum Strafrecht überschreitet, trägt klar die Verantwortung. Das heisst nicht, dass sich ein Opfer nicht ungeschickt verhalten kann. Aber solange die Person keine strafrechtliche Grenze überschreitet, ist sie ganz einfach nicht mitschuldig.
Dennoch gibt es die Ansicht, das Opfer sei mitverantwortlich.
Das hat erstens mit dem sogenannten Täuschungseffekt der Retrospektive zu tun: Wenn wir gewisse Informationen über ein Ereignis haben, schätzen wir dieses als wahrscheinlicher ein. So verhält es sich auch bei Straftaten. Wir sagen: «Warum hast du ausgerechnet diesen Bus genommen? Du hättest doch wissen können, was passiert.» Im Nachhinein ist man klüger. Davon ausgehend, erscheint auch etwa eine Vergewaltigung vorhersehbar: Wir denken, das Opfer hätte mit dem Überfall rechnen müssen.
Und zweitens?
Für uns ist es schwierig, etwas als reinen Zufall einzustufen. Wir haben das Gefühl, unser Leben bestimmen zu müssen. Dadurch besteht die Tendenz, dass wir uns bei einem schlimmen Erlebnis lieber ein wenig die Mitschuld geben. So vermitteln wir uns selber den Eindruck, wir hätten das Schicksal zumindest ein klein wenig im Griff.
Weshalb werden Opfer häufig als passiv, schwach und sogar dumm abgewertet?
In unserer Kultur ist das Aktivsein, das Handeln, das Überlegensein positiv besetzt. Und eine Tatperson erfüllt genau das: Sie ist aktiv, sie handelt, sie überlegt. Das Opfer auf der anderen Seite ist die Person, die erduldet. Sie ist klein, lässt etwas mit sich geschehen, vielleicht ist sie auch ein wenig unüberlegt. Damit wollen wir nicht identifiziert werden.
Hat sich die Stellung des Opfers verschlechtert?
Nein. Wichtig ist, dass wir zwischen aktuellen und potenziellen Opfern unterscheiden. Für die aktuellen Opfer, also Personen, die tatsächlich Opfer einer Straftat geworden sind, hat es in den letzten Jahrzehnten Verbesserungen gegeben.
Inwiefern?
Das Opferhilfegesetz, das 1993 in Kraft trat, ist ein grosser Fortschritt. Dieses hatte auch Auswirkungen auf den Strafprozess: Aktuelle Opfer haben heute während des Verfahrens mehr Rechte, etwa auf Information, Anhörung und Schutz.
Und potenzielle Opfer?
Die Kriminalpolitik fokussiert sich vermehrt auf potenzielle Opfer, also Personen, die fürchten, Opfer eines Verbrechens zu werden. Und diese Verbrechensfurcht wird immer wieder als Anlass genommen, das Strafrecht zu verschärfen. Das sieht man auch daran, wie häufig in den letzten Jahren das Strafrecht revidiert und verschärft wurde. Damit wird auf die Angst der Leute abgestellt. Das kann ich nicht gutheissen. Denn aktuelle Opfer wollen keine Verschärfung des Strafrechts.
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