Berner Ideen (13)Die Glückslehrerin
Die Berner Tanzlehrerin Sylvia Frauchiger hat eine Geschäftsidee, die tönt wie ein Weihnachtsgeschenk: Sie bietet Schulen das Unterrichtsfach Glück an.

Gewinne ich jetzt im Lotto? Läuft mir am Nachmittag die grosse Liebe über den Weg? Wird mir ein neuer Job angeboten? Sylvia Frauchiger (52) lacht los und biegt sich in heiterem Übermut über die Ballettstange im Berner Tanzstudio Akar, in dem sie arbeitet.
Sie kennt die Fragen aus dem Effeff, die ihr gestellt werden, sobald sie jemandem erzählt, was sie seit den Sommerferien an der Unterstufenschule Herrenschwanden in Kirchlindach macht: als Lehrerin das Wahlfach Glück unterrichten, zwei Stunden die Woche. «Es geht nicht um das schnelle Zufallsglück, nicht darum, ständig happy zu sein», sagt sie, «sondern um tieferes Glück.» Tieferes Glück? «Ja», fährt sie fort, «ich meine damit: mich selber kennen lernen, wertschätzen und damit langfristig ein psychisches Wohlbefinden herstellen.»
Ich. Ich! Ich? «Mit Egoismus hat das nichts zu tun», entgegnet Sylvia Frauchiger. Nur wer über einen intakten Selbstwert verfüge, könne auf andere Menschen zugehen. Ihre Lehre vom Glück bedeute, Kindern und Jugendlichen zu helfen, die psychische Widerstandskraft zu stärken.
«Ein Stück Glück»
Sylvia Frauchiger, die seit Kindsbeinen leidenschaftlich tanzt, arbeitet seit 1994 als selbstständige Tänzerin und Tanzpädagogin, sie unterrichtet Kinder, Jugendliche und Erwachsene bis ins hohe Alter von 80 Jahren. Oft lässt sie verschiedene Generationen gemeinsam auftreten oder sie bindet aktuelle Fragen – etwa das Abfallverhalten – in Tanzperformances ein. Eine ihrer Choreografien heisst: «Ein Stück Glück.»
«Ich empfand und empfinde es stets als Glück, kreativ zu sein, mich bewegen und ausdrücken zu können», sagt Sylvia Frauchiger, die Mutter zweier erwachsener Söhne ist. Und doch begannen Zweifel in ihr zu nagen, die über athletisches Training und die künstlerische Performance hinausgehen. Körperliche Beschwerden «zeigten mir, dass ich weitersuchen, mich als Zusammenspiel von Körper, Seele und Geist verstehen will». Sie habe gespürt, dass sie hinter ihr äusseres Image als erfolgreiche Berufs- und Familienfrau schauen müsse: «Ich suchte Antworten auf die Fragen, wer bin ich eigentlich, was macht mich glücklich und was kann ich selber dazu beitragen, mein inneres Gleichgewicht herzustellen, egal was mir von aussen begegnet.»
Krux des Vergleichens
Frauchiger absolvierte mehrjährige Weiterbildungskurse bei Veit Lindau, einem deutschen Coach, Redner und Bestsellerautor, der sich als «Experte für integrale Selbstverwirklichung» versteht. Rasch realisierte sie, wie sie sagt, dass «ich Instrumente in die Hand bekam, die mir halfen, meinen Wert zu erkennen».
Eine für sie zentrale Erkenntnis lautet: wie stark das Leben darauf ausgerichtet ist, Bestätigung zu suchen, indem man sich ständig vergleicht. An ihren eigenen Kindern, deren Freunden oder ihren Tanzschülern beobachtete sie, wie die omnipräsenten Smartphones und die sozialen Medien den frenetischen Wettbewerb noch verstärken. Und unter Umständen eine Negativspirale in Gang setzen, die sich in Rückzug, Depression oder Mobbing äussern kann.
Prävention gegen Depression
Sylvia Frauchiger beschloss, dagegen anzutreten. Sie besuchte einen Kurs für das «Schulfach Glück» in Basel, der sich auf ein Konzept bezieht, das in Bildungsgängen in Deutschland und Österreich in den letzten Jahren Verbreitung fand. Vereinfacht gesagt: Glück als Schulfach orientiert sich an wissenschaftlichen Erkenntnissen der «Positiven Psychologie», die zeigen, dass man mit geeigneten Übungen selber dazu beitragen kann, ein zuversichtliches Grundgefühl zu stärken. Etwas gestelzt könnte man auch von Lebenskompetenz reden. In der Schweiz wurde vor knapp zehn Jahren kurz diskutiert, «Glück» in den Lehrplan 21 aufzunehmen. Das Vorhaben liess man dann fallen.
Nun ergreift Sylvia Frauchiger ausgerechnet im Jahr von Corona als Selbstständige die Initiative. «Raum für Glück» nennt sie ihr eben aufgeschaltetes Coaching- und Bildungsangebot. «Gar nichts gegen Mathematik oder Grammatik», sagt sie, «aber neben all der Wissensvermittlung bleibt in der Schule oft das Vertrauen in die natürlichen Stärken und Talente auf der Strecke». Als Glückslehrerin möchte sie dem entgegenwirken. Sie rechnet damit, dass Schulleitungen zögern, auf sie und ihr wenig bekanntes Coaching einzusteigen. «Aber», hält sie dagegen, «wenn man Untersuchungen anschaut, die zeigen, wie viele Kinder und Jugendliche von Depressionen betroffen sind, ohne dass es diagnostiziert wird, spricht gar nichts gegen Glücksunterricht.»
Die Glücksstunden, die sie im Schulhaus Herrenschwanden seit ein paar Monaten durchführt, motivieren sie ohnehin. Auf das freiwillige Wahlfach eingelassen haben sich fünf Mädchen, «kein Wunder», lächelt Sylvia Frauchiger. Rasch seien intensive Gespräche zustande gekommen, über Gefühle und Ängste zum Beispiel. «Schon nur zu merken, dass andere mit ähnlichen Schwierigkeiten kämpfen, erleichtert so vieles», sagt sie, «man spürt: Es ist gut so, wie ich bin.»
Abgesehen davon, dass sie einfache Übungen zeige, die sich dauerhaft positiv auf die Grundstimmung auswirkten – etwa jeden Abend drei erfreuliche Dinge des vergangenen Tages aufzuschreiben. Die Teilnehmerinnen seien sehr angetan und hätten ihr versprochen, Werbung zu machen für ihren Glücksunterricht – «auch bei den Jungs». Ein erster Glücksmoment für die Glückslehrerin.
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